Eine Nachbereitung zu Rostock (1998) vom Berliner EA
"Berliner Ermittlungsausschuß" (EA Berlin) (Gastbeitrag)Es ist schon eine Menge zu den Ereignissen im Zusammenhang mit dem NPD-Aufmarsch am 19.9.1998 in Rostock gesagt und geschrieben worden. Einige vom Berliner "Ermittlungsausschuß" (EA) haben während dieser Zeit in Rostock am EA-Telefon gesessen. Wir wollen nun noch unsere Sicht aus der Telefonzentrale hinzufügen. Wir schreiben dies zwar als Nachbetrachtung unserer EA-Arbeit in Rostock, wollen diesen Beitrag aber als weiterreichend verstanden wissen. Vieles, was uns an diesem Tennin auffiel, ist für uns Wiederholung.
Zunächst einmal zu uns: An unserem »Service« in Rostock gab es eine Kritik, die uns nicht unbekannt ist. Wir hätten keine oder unzureichende Auskunft über den Verbleib der Festgenommenen geben können. Das stimmt, aber das läßt sich nicht ändern. Die Situation in Rostock war die, daß uns zunächst einmal überhaupt keine Gefangenensammelstellen (Gesas) bekannt waren. Erst im Laufe des Samstags erfuhren wir von Leuten, die uns aus den Gesas anriefen, daß die Polizei die Frauen in der Polizei-Schwimmhalle und die Männer in einer Turnhalle »sammelten«. Die Polizei teilte uns das nicht selbstredend mit, zumal sie häufig selbst improvisiert.
In hektischen Situationen wie am Samstag vormittag, wo ständig Leute in diversesten Vorkontrollen in Gewahrsam genommen wurden, ist es für uns unmöglich, noch selbst zu recherchieren, in welche Gesa wer gebracht wird. Das sollten die Leute vor Ort rauszufinden versuchen und uns dann mitteilen. Wir haben, was wir bei größeren Veranstaltungen eigentlich immer machen, nachdem uns 10 bis 20 Festnahmen bekannt waren, Anwältinnen gebeten, bei den bekannten Polizeistellen anzurufen und rauszukriegen, wo die Festgenommenen hingebracht wurden, was den einzelnen vorgeworfen wird, ob schon ersichtlich ist, was sie weiter vorhaben: Sicherungsgewahrsam oder möglicherweise Beantragung eines Haftbefehls. Wir haben in den 48 Stunden EA-Arbeit ungefähr 100 Festnahmen an den diversen Orten der Stadt und Umgebung aufgenommen. Zum Teil klingelten alle drei vorhandenen Telefone auf einmal. Für uns ist in so einer Situation immer erst einmal wichtig, daß uns niemand durch die Maschen rutscht, das heißt, jemand dem Haftrichter vorgeführt wird und wir das nicht mitkriegen. Wir hätten Euch auch gerne früher gesagt, wann die Festgenommenen wo wieder freigelassen werden. Die Polizei machte dazu spärliche und, wie so oft, widersprüchliche Angaben. Wir saßen da in unserem muffigen Büro, meist ohne Schokolade und andere Nervennahrung, mit dem Telefon als unsere einzige Verbindung nach draußen; und draußen, das seid Ihr. Wir haben oft keine Ahnung, was draußen so vor sich geht und sind auf Informationen von Euch angewiesen.
Wir machten in Rostock aber auch ziemlich gute Erfahrungen mit Leuten, die einfach immer mal wieder angerufen haben und uns die jeweilige Situation beschrieben haben. Was uns sehr gut gefallen hat, war, daß die Eingefahrenen vor der Gesa empfangen wurden und Leute zum Teil stundenlang davor ausgeharrt haben, bis alle draußen waren und uns dazu noch die Namen der Freigelassenen durchgegeben haben. Ihr habt uns damit einen Haufen Arbeit erspart. In dem Zusammenhang gab es aber auch andere negative Erfahrungen. Eine sehr junge Frau war über Nacht in Gewahrsam geblieben und rief mehrmals bei uns an, ob denn ihre Kumpels sich schon gemeldet hätten. Sie waren zusammen mit dem Auto angereist. Die Kumpels haben sich nie bei uns gemeldet und sind auch ohne sie wieder nach Hause gefahren. Wenn sie sich nicht selbst gemeldet hätte, hätten wir noch nicht einmal gewußt, daß sie eingefahren ist. Im schlimmsten Fall wäre sie im Knast geblieben und niemand hätte was gemerkt.
Die meisten Gruppen waren glücklicherweise gut vorbereitet, hatten gute Absprachen, sich wiederzutreffen und haben sich verbindlich umeinander gekümmert. Das ist keineswegs so selbstverständlich, wie es sein sollte. Es hat mal wieder viele Ingewahrsamnahmen wegen (angeblicher) »Waffen« etc. gegeben. Einige AntifaschistInnen sind gar nicht erst bis Rostock gekommen, da in ihren Autos (angebliche) »Waffen« und/oder offensichtliche Hinweise auf das Reiseziel Rostock gefunden wurden. Daß es Vorkontrollen geben würde, war klar abzusehen. Es ist schade, deshalb aufgehalten oder in Gewahrsam genommen zu werden.
Zu dem durch ein von Neonazis gefahrenen PKW lebensgefährlich verletzten Antifaschisten gab es einzelne Aufrufe, sich als Zeuginnen bei Privatpersonen oder Gruppen zu melden. Wir finden es total wichtig, daß nur Rechtshilfegruppen, Ermittlungsausschüsse und evtl. bekannte VertrauensanwältInnen solche ZeugInnenaufrufe machen, um den ZeugInnen einen zuverlässigen Schutz zu bieten. Wenn Ihr ZeugInnenaufrufe machen wollt/müßt, wendet Euch an EAs oder AnwältInnen. Wir finden es gefährlich, sich auf ZeugInnenaufrufe zu melden, bei denen nicht ersichtlich ist, woher sie kommen. Auch wenn diese ZeugInnenaufrufe mit den besten Absichten gestartet wurden, ist für Dritte nicht gesichert, wie mit den Informationen umgegangen wird. Wir finden es sinnvoll, in solchen Fällen vertrauenswürdige Stellen zwischenzuschalten.
Das Gleiche gilt selbstredend auch für das Sammeln von Gedächtnisprotokollen. Und überhaupt Gedächtnisprotokolle: Obwohl es sehr viele Leute geben müßte, die zu den verschiedenen Geschehnissen in Rostock Beobachtungen gemacht haben, können wir bisher die Gedächtnisprotokolle, die bei uns eingegangen sind, noch an einer Hand abzählen. Gedächtnisprotokolle sind zum einen wichtig als ganz schnöde Gedächtnisstützen für Euch selbst, wenn der Prozeß (in dem Ihr als ZeugIn oder Angeklagte/r auftretet) etliche Monate nach dem Vorfall stattfindet. Sie sind für eine spätere Verteidigung vor Gericht für Eure AnwältInnen von großer Bedeutung, damit sie sich ein Bild von der Situation, wegen der sie Euch oder Dritte verteidigen sollen, machen können. Gedächtnisprotokolle von ZeugInnen sind noch rarer als welche, die die eigene Situation betreffen, aber äußerst wichtig. Wir können mit Hilfe von Gedächtnisprotokollen manchmal ZeugInnen zu bestimmten Festnahmesituationen zuordnen. Es wird auch in dieser Angelegenheit zu etlichen Verfahren kommen und es werden, wie immer, ZeugInnen zu allen möglichen Festnahmen und Ereignissen gebraucht. Sowohl der Berliner als auch der Rostocker EA sammeln zu diesen Ereignissen nach wie vor Gedächnisprotokolle.