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Neonazis marschieren in Berlin-Tegel

Einleitung

5. Dezember 1998 in Berlin: Knapp 350 Neonazis demonstrieren vor der JVA Berlin Tegel. Vorne weg zwei Transparente »Freiheit für Frank Schwerdt«, der in Tegel wegen Volksverhetzung einsitzt und im Oktober 1998 zu einer weiteren Haftstrafe wegen Gewaltverherrlichung verurteilt wurde, und - größer und auffälliger - »Freiheit für Kay Diesner«, getragen im Block der sogenannten »Freien Kameradschaften«.

Foto: Christian Ditsch

Der Aufrmarsch bot einen kleinen Querschnitt durch die aktuellen Neonazi-Szene. Mit dabei waren u.a. die bekannten (früheren) Neonazi-Funktionäre Steffen Hupka (Sachsen-Anhalt), Oliver Schweigert (Berlin), Andre Kapke (Kameradschaft Jena) und Christian Worch (Hamburg). Auch eine Riege von NPD-Funktionären war für ihren Partei-Funktionär erschienen: Der NPD-Anmelder Jürgen Distler (Bayreuth), Hans Günther Eisenecker (Goldenbow), Ronny Klein (Rostock), Holger Apfel (Hildesheim), Jörg Hähnel (Frankfurt/Oder). Das Sagen aber hatten an diesem Tag jedoch die »Freien« Kameradschaften" um Worch und Schweigert. Die Zusammensetzung unterstrich die Bedeutung des NPD-Bundesvorstandsbeisitzers Schwerdt als Bindeglied zwischen den "Freien Kameradschaften" und der NPD.

Machtkampf gegen die NPD-Jugend

Schon im Vorfeld hatte es in der Neonaziszene Streit gegeben: Der JN- und NPD-Landesverband Berlin, insbesondere JN-Kader Andreas Storr (Berlin), hatten sich geweigert, den Aufmarsch zu unterstützen. Die Berliner NPD hatte parteiintern erfolglos gegen die Aufnahme von Frank Schwerdt in die NPD angekämpft gehabt. Die Zahl der Berliner Teilnehmer war entsprechend gering. Es waren vor allem "Kameradschaften" aus Schleswig-Holstein, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Sachsen-Anhalt - mit leuchtenden Aufschriften »Selbstschutz Sachsen-Anhalt« -, die das Gros des Fußvolkes stellten. Und das rebellierte dann ganz offen gegen den Führungsanspruch der JN/NPD, als es um das "Kay Diesner"-Transparent ging. Während Holger Apfel per Lautsprecherwagen forderte, das Transparent zu entfernen und Eisenecker sogar deshalb ein Eingreifen der Polizei verlangte (die sich allerdings weigerte), buhte die Mehrheit der Aufmarschteilnehmer und umjubelte stattdessen Christian Worch, der in Lautsprecherdurchsagen die NPD angriff. Offenbar war die Lautsprecher-Technik von Worch gestellt worden. Eine von Apfel geforderte Abstimmung über den Verbleib des Transparents endete damit, daß sich die meisten Neonazis auf die Seite der Befürworter stellte, während Eisenecker und Apfel mit knapp 50 Getreuen auf der anderen Seite standen und klein beigaben. Gekrönt wurde der Streit durch Sprechchöre gegen die NPD. Ein Sieg nach Punkten für Christian Worch und die "Freien Kameradschaften", denen die NPD nach wie vor zu windelweich ist und die sich darauf beschränken, die Partei für ihre Zwecke - für Aufmarschanmeldungen, Geld, Infrastruktur und als Mobilisierungsfaktor - zu nutzen. Auch ansonsten fiel die Selbstinszenierung der Neonazis nicht besonders glanzvoll aus: Gerade einmal 350 statt der angekündigten 1.000 Teilnehmer waren gekommen, der Sammelpunkt wurde eine halbe Stunde vor Beginn aus Angst vor den antifaschistischen Protestaktionen verlegt und die Route erheblich gekürzt.

Mißerfolge und Erfolge liegen dicht beeinander

Grund zum Jubeln gibt es für AntifaschistInnen jedoch nicht. Nachdem Mitte November 1998 bekannt geworden war, daß die NPD den Aufmarsch plante, reagierte das Berliner "Bündnis gegen Rechts" (BgR) mit einer schnellen Mobilisierung. Um die Aufmarschroute herum und an möglichen Zufahrtswegen wurden Kundgebungen angemeldet, nachdem eine zunächst angemeldete Demonstration entlang der Neonaziroute von der Polizei rundweg verboten wurde. Auch zwei der Kundgebungen fielen Verboten zum Opfer, drei blieben jedoch - mitsamt einer kurzen Demonstration und Auflagen - genehmigt. Dadurch war es immerhin möglich, einen Teil des unorganisierten Neonazifußvolks direkt wieder nach Hause zu schicken. Eine massive Präsenz von Polizei im gesamten Stadtteil, Platzverweise und ein mitlaufender Polizeikordon rings um den Aufmarsch führten jedoch dazu, daß die Neonazis ungestört ihren Abschlußkundgebungsort vor der JVA Tegel erreichen konnten. Als dort dann zwei antifaschistische Transparente gezeigt wurden, griff die Polizei sofort ein. Zu den Erfolgen des Berliner BgR zählte sicherlich die unkomplizierte Bündnisarbeit: PDS und Bündnisgrüne unterstützen die antifaschistischen Aktivitäten, auch wenn von ihrer Basis an dem Tag kaum jemand zu sehen war.

Ein weiterer Erfolg war die Pressearbeit des BgR: Dadurch gelang es, die politische Forderung, sich dem Neonaziaufmarsch entgegenzustellen, in der Woche vor dem 5. Dezember 1998 in allen wichtigen Berliner Medien zu transportieren. Auch nach dem Neonaziaufmarsch bestimmte das BgR die Berichterstattung. Ein anderes Ziel wurde so ebenfalls erreicht: Den Umgang des Berliner Senats und der Polizei mit Neonazis öffentlich zu thematisieren. Berlins neuer Innensenator Ekkehart Werhebach (CDU) verfolgt die gleiche Linie wie sein Vorgänger Jörg Schönbohm (CDU): Enge Kooperation mit den Neonazis, Repression gegen AntifaschistInnen. Kein Wunder, daß NPD-Pressesprecher Klaus Beier (Kirchzell) vor dem Aufmarsch öffentlich erklärte, er hoffe auf den Schutz des Innensenators.

Neonaziaufmärsche - und was tun?

Statt einer eigenen Stellungnahme zu dem Problem, das uns sicher noch länger beschäftigen wird, wollen wir an dieser Stelle auf ein Diskussions-Papier einer »autonomen antifaschistischen Gruppe aus Hamburg« verweisen, die nach dem NPD-Aufmarsch am 19. September 1998 in Rostock u.a. zu den Möglichkeiten und Grenzen antifaschistischer Mobilisierungen angesichts von Neonazigroßaufmärschen schrieb: »Aus eigener Stärke kann die antifaschistische Bewegung sich in der Regel nicht mehr im Rahmen von angemeldeten Demonstrationen, also allgemein einschätzbaren Situationen, gegen die Bullen durchsetzen. Möglichkeiten entstehen nur noch, wenn ihre eigenen Einsatzkonzepte derart zugeschnitten sind, daß im Sinne von Aufwand-Nutzen-Rechnungen Spielräume für uns entstehen oder bei ihnen selber Chaos herrscht. (...) Auf einer anderen Ebene brauchen wir eine Diskussion darüber, wie wir auch jenseits des konkreten Widerstands gegen das Auftreten von Nazis gesellschaftlich intervenieren können."