Soviel Zeit muss sein
RA Sven RichwinMit den Versuchen von Polizei- und Ordnungsbehörden, Antifa-Demonstrationen kontrolltaktischen Überlegungen unterzuordnen, ergibt sich oftmals das Bedürfnis, sich auf dem Klagewege »phantasievoller« Auflagen oder überraschender »Ortsverlegungen« zu erwehren.
In der Regel verbleibt es jedoch bei dem Versuch, sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vor den Verwaltungsgerichten zu behaupten, um die Verfügungsgewalt für die anstehende Versammlung zu behalten. Derartige Eilverfahren leiden nicht nur unter dem Zeitdruck, sondern insbesondere unter der lediglich »summarischen Prüfung« der Gerichte, welche im Zweifel regelmäßig der Einschätzung der Polizeibehörden folgen. Für ein reguläres aber langwierigeres Hauptsacheverfahren im Anschluss an die Versammlung fehlt oftmals der lange Atem und auch das Interesse: Die Demonstration ist vorbei und die nächsten Termine bereits im Fokus.
Derartige Eilverfahren führen aber zumeist nur zu einer unnötigen Verfestigung einer versammlungsfeindlichen Rechtsprechung und Ausdehnung der polizeilichen Eingriffsmöglichkeiten. Erfolgversprechender gestalten sich Klagen im Hauptsacheverfahren – auch wenn dort insbesondere im Hinblick auf die Verfahrensdauer dicke Bretter zu bohren sind.
Ein solch dickes Brett war eine Demonstration unter dem Motto »Keine Nazi-Aufmärsche in Hohenschönhausen« am 1. Mai 2002 in Berlin, welche sich gegen einen dortigen Aufmarsch der NPD richtete. Die Versammlungsbehörde verlegte die Demo des Antifa-Bündnisses aus dem Viertel auf die andere Seite der S-Bahngleise, im Wesentlichen mit der Begründung, die Demo diene lediglich der Verhinderung des NPD-Aufmarsches. Im einstweiligen Rechtsschutz scheiterten die VeranstalterInnen sowohl vor dem Berliner Verwaltungsgericht (VG 1 A 124/02) als auch vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG 1 S 26/01). Erst auf Grund einer Fortsetzungsfeststellungsklage erklärte das Verwaltungsgericht Berlin drei Jahre später das Vorgehen der Versammlungsbehörde für rechtswidrig (VG 1 A 188.02 – Urt.v.23.2.2005 – juris). Das kaum bekannte Urteil ist mittlerweile rechtskräftig und in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, stärkt es doch die Rechtsposition von Gegenkundgebungen.
Gegendemonstration ist legitimes Versammlungsziel
Zunächst betonte das Gericht, dass auch eine Gegendemonstration den vollen Schutz des
Grundrechts der Versammlungsfreiheit genießt, solange sie sich kommunikativer Mittel bedient und nicht ausschließlich dem Zweck dient, die Veranstaltung, gegen die sie sich richtet, mit physischen Mitteln zu verhindern. Es könne niemandem verwehrt werden, eine Versammlung an einem Ort durchzuführen, an dem er die Anmeldung einer anderen Versammlung vermute, gegen deren Veranstalter oder Ziele er sich mit einer eigenen Demonstration wende. Der Schutz des Art. 8 GG endet erst dort, wo die andere Veranstaltung gleichsam im Wege der »Selbsthilfe mit Gewalt, deren Androhung oder groben Störungen, die nach § 21 VersG strafbar sind, physisch verhindert werden soll oder wo flächendeckende Anmeldungen ausschließlich zu dem Zweck erfolgen, die bekämpfte Veranstaltung zu verhindern, die angemeldeten Veranstaltungen in Wahrheit aber gar nicht durchgeführt werden sollen (Scheinanmeldungen).«
Sicht- und Hörweite
Gegendemonstrationen verlieren den Schutz des Versammlungsrechts somit auch nicht, wenn sie das Ziel verfolgen, mit der Versammlung den angemeldeten Versammlungsort physisch in Beschlag zu nehmen. »Denn dass zu den zulässigen kommunikativen Mitteln einer Versammlung auch die physische Präsenz an einem bestimmten Ort gehört, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch Sitzblockaden den Schutz der Versammlungsfreiheit genießen«1 .
Das Bundesverfassungsgericht hatte zudem im sog. »Brokdorfurteil« die Hürde für die Annahme einer (insgesamt) unfriedlichen Versammlung, die nicht mehr unter dem Schutz des Art.8 GG stehen würde, hoch gelegt: »Steht nicht zu befürchten, dass eine Demonstration im Ganzen einen unfriedlichen Verlauf nimmt oder dass der Veranstalter und sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, bleibt für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten, wenn mit Ausschreitungen durch einzelne oder eine Minderheit zu rechnen ist2 .«
Hohe Hürden für Annahme einer »Scheinanmeldung«
Dass der Aufzug des Klägers auf der Strecke durchgeführt werden sollte, auf der die NPD im Vorjahr demonstriert hatte, könnte nach Ansicht des Gerichts zwar für eine Verhinderungsabsicht sprechen, reiche aber allein nicht aus, weil eine Versammlung gerade wegen des Aufmarsches im Vorjahr an diesem Ort ernsthaft beabsichtigt gewesen sein könnte: »Zwar gab es flächendeckende Gegenanmeldungen zur NPD-Demonstration. Denn es waren, wie der Beklagte näher ausgeführt hat, für den 1. Mai 2002 zwei Aufzüge und 32 Kundgebungen an strategischen Punkten im östlichen Stadtgebiet Berlins angemeldet worden. Um die Versammlung des Klägers aber aus diesem Grunde als Scheinanmeldung mit ausschließlicher Verhinderungsabsicht qualifizieren zu können, müsste sich der Kläger das Verhalten sämtlicher anderen Anmelder zurechnen lassen. Das wäre insbesondere dann der Fall, wenn die verschiedenen Anmelder derselben Organisationsstruktur zuzurechnen wären oder abgestimmt und koordiniert gleichsam mit verteilten Rollen aufgetreten wären.« Hier waren die AnmelderInnen unterschiedlichen politischen Parteien (PDS, SPD), kirchlichen Initiativen oder antifaschistischen Gruppen zuzurechnen. Ein koordiniertes Vorgehen konnte seitens der Versammlungsbehörde nicht belegt werden, die thematische Verbundenheit allein genügte dem Gericht nicht.
Keine eigenmächtige »Kundgebungsverteilung«
Im Falle einer gleichberechtigten Anmeldesituation von mehreren Versammlungen sind nach dem sog. »Prinzip der praktischen Konkordanz« die in Kollision befindlichen Grundrechte der Teilnehmer beider Versammlungen einander so zuzuordnen, dass beide möglichst gleich wirksam werden können.
Im vorliegenden Fall meldete der Kläger seine Versammlung an demselben Tag an, an dem der Aufzug der NPD mit deren Einverständnis an denselben Ort verlegt wurde. Hier besteht aber die Besonderheit, dass die NPD ihren Aufzug ursprünglich für einen anderen Ort angemeldet hatte und die konkurrierende Anmeldung der NPD erst auf Vorschlag der Versammlungsbehörde in Kenntnis der Anmeldung des Klägers erfolgt ist. Die Grundvoraussetzung der »praktischen Konkordanz«, bei der es um einen Ausgleich zwischen verschiedenen gleichrangigen Rechtsgütern und Rechten Privater geht, entfällt aber, wenn der örtliche Konflikt zwischen mehreren Versammlungen durch das Eingreifen der Versammlungsbehörde überhaupt erst entsteht. Die Versammlungsbehörde ist nicht berechtigt, den Anmelder einer Versammlung als Störer in Anspruch zu nehmen, indem sie die Versammlung durch eine andere, aus Sicherheitsgründen am ursprünglichen Ort nicht durchführbare Versammlung verdrängt (»wegdrückt«). Überspitzt formuliert, hat die Ordnungsbehörde die im Bescheid vom 29. April 2002 bekämpfte Gefahr selbst geschaffen und war damit selbst »Störer«. Einem eigenmächtigen »Verteilen« der Kundgebungsorte seitens der Versammlungsbehörde wurde damit ein Riegel vorgeschoben.