Skip to main content

Die europäische »identitäre Bewegung«

Bernard Schmid (Paris)
Einleitung

In Deutschland kennt man den Zeitgenossen »Otto Normalverbraucher«, während sein englischsprachiges Pendant eher »John Doe« oder »Joe Citizen« heißt, in den USA auch gerne »Joe Six-Pack«. Doch in Frankreich nennt man ihn, den unbekannten Zeitgenossen, »citoyen Lamba«, unter Anspielung auf einen Buchstaben im altgriechischen Alphabet, welcher auch als mathematisches Zeichen benutzt wird.

Drei Aktivisten der »Identitären Bewegung Deutschland« tanzen gegen »Multikulti« in der Frankfurter Fußgängerzone.

Man hätte nicht unbedingt erwartet, dass sich eine rechte Bewegung nach dem Zeichen benennt oder es als Symbol benutzt. Oder vielleicht im Sinne von Adolf Hitler? Im Sinne seines Originalzitats: »Uniform und Marschmusik brennen auch dem kleinen Spießer die Vorstellung ein, als kleiner Wurm dennoch Teil einer großen Masse zu sein... «

Doch nun kommt es anders, als man hätte denken können. Eine auf »kulturell modern« machende rechtsextreme Bewegung erhebt sich das »Lambda« zum Erkennungssymbol. Aber sie tut es nicht im Zeichen von massenhafter Uniformität, Marschmusik und/oder reaktionärem Spießertum. Auch wenn Militarismus ihr mitnichten fremd ist, so kombiniert sie ihr Auftreten doch mit Happeningformen, zeitgenössischen Tanzstilen, unter eifriger Verwendung von Anglizismen und tunlichst unter Distanzierung von altem Naziplunder. Die jungen und überwiegend männlichen Individuen, die als Adressaten der Botschaft gelten, werden dadurch eben nicht als anonymer Bestandteil einer »Spießermasse« angesprochen - sondern sollen sich im Gegenteil als eine Art junger Rebellen aus ihr herausgehoben fühlen.

Des Rätsels Lösung – um unsere LeserInnen nicht länger auf die Folter zu spannen (auch nicht im übertragenen und relativ harmlosen Sinn des Wortes) – liegt darin, dass das „Lambda" mit einem besonderen ideologischen Symbolgehalt aufgeladen wird. Auch wenn die Bewegung ihre Ursprünge in Frankreich hat, wird das altgriechische gabelförmige Zeichen nicht im oben genannten Sinne benutzt. Vielmehr soll es auf eine historische Begebenheit im »wirklichen« antiken Griechenland anspielen, die freilich den jungen rechten Aktivisten eher aus dem Hollywoodfilm »300« denn aus historischen Forschungen bekannt sein dürfte.

Es geht um die Schlacht bei den Thermophylen: 300 junge Krieger aus Sparta zogen damals in eine hoffnungslos und verloren geglaubte Schlacht gegen einen übermächtigen Gegner, in Gestalt persischer Invasoren. Der oben genannte Hollywoodschinken setzt sie in Szene. Was daran geschichtliche Realität und was Erfindung des modernen Kinos ist, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben. In jedem Falle sollen sich die jungen Rechtsextremen von heute, unter Bezugnahme auf »damals« ihrerseits als »Helden« im Kampf gegen (nur scheinbar übermächtige) »Invasoren« fühlen können. Letztere verkörpern sich, mensch hätte es beinahe erraten, in Einwanderern - und besonders solche moslemischer Konfessionszugehörigkeit. Das »Lambda« wird dabei in stilisierter Form benutzt: Es wird als eine Art umgekehrtes »V«, dessen Spitze nach oben zeigt, in einen Kreis gestellt.

In deutschsprachigen Ländern machte die Bewegung mit dem »Lambda«, die sich selbst unter Verwendung des Adjektivs »identitär« bezeichnet, erstmals Anfang Oktober 2012 in der Öffentlichkeit von sich reden. Am 29. September um die Mittagszeit hatte in Wien ein Tanzworkshop mit afrikanischen und aus Haiti stammenden Menschen stattgefunden, im Rahmen einer durch die Wohltätigkeitsvereinigung Caritas organisierten Veranstaltung im Stadtteil Floridsdorf. Von den TeilnehmerInnen gänzlich unerwartet, tauchten dort unvermittelt etwa zehn junge Männer auf. Diese trugen weiße Gespenster-, Schweine- und Affenmasken. Letztere waren natürlich als rassistische Anspielung auf Menschen mit schwarzer Hautfarbe gedacht. Besonders taten sich zwei junge Männer hervor, die mit einer Affenmaske auf dem Gesicht für kurze Zeit die – selbst schwarze – Animatorin des Workshops umtanzten. Die übrigen Anwesenden wussten zunächst nicht, wie ihnen geschah und welche Botschaft dabei vermittelt werden sollte. Letztere ergab sich aus der Lektüre der mitgeführten und von den Tänzern in die Höhe gehobenen Schilder: „Zertanzt die Toleranz!" (die Caritas-Veranstaltung stand offiziell im Zeichen der Toleranz), »Multikulti wegbassen« und »Tanz die Reconquista!«. Der letztgenannte Ausdruck bezeichnet die »Rückeroberung« der iberischen Halbinsel durch die Kräfte der katholischen spanischen Monarchie, die im Jahr 1492 mit dem Fall von Granada – einer bis dahin noch muslimisch beherrschten Stadt - endete. Bekanntlich mündete die Reconquista in die Vertreibung oder Ermordung aller in Spanien lebenden Muslime und Juden.

Nach kurzer Zeit war der Spuk vorbei, doch der Zwischenfall erfuhr im Nachhinein große Publizität, vor allem durch die Veröffentlichung von Videos von dem Auftritt im Internet. Erstmals wurde eine breitere Öffentlichkeit dabei, auch über Berichte in österreichische Zeitungen, mit den deutschsprachigen Ablegern der »identitären« Bewegung konfrontiert. Bereits im August hatte deren Wiener Anhänger allerdings Straßenschilder in der Hauptstadt Österreichs mit Aufklebern überpappt, die die Aufschrift »Istanbul?« trugen. Eine Aktionsform, die durch das französische Original – den Bloc identitaire und seine verschiedenen Ableger, also seine regionalen Unterabteilungen in der Bretagne oder im Elsass oder seine Jugendorganisation Génération identitaire – in den letzten Jahren oft praktiziert wurde. Besonders in den Jahren 2010 und 2011 fanden an verschiedenen Orten in Frankreich Agitprop-Aktionen statt, bei denen mal (im Umland von Bordeaux) EinwohnerInnen frühmorgens durch einen falschen »Ruf des Muezzin« aus den Betten gejagt wurden, und mal (in Nizza) Straßennamen in »Straße der Scharia«, »Straße der Muslimbrüder« und andere vermeintliche Ausdrücke der behaupteten »akuten islamischen Bedrohung« umgewandelt wurden.

Sogar der konservative Bürgermeister des eher rechts und rassistisch geprägten Nizza, Christian Estrosi, hat daraufhin übrigens Strafanzeige erstattet – gegen Unbekannt, obwohl die Handschrift der Aktion allzu deutlich war. Nizza ist eine Hochburg der »identitären« Gruppierungen in Gestalt von Nissa Rebela. Eine lokale Gruppierung unter Führung von Philippe Vardon, die allerdings insofern eine Sonderrolle spielt, als sie stärker als andere Ableger der »identitären« Bewegung auch in der institutionellen Kommunalpolitik tätig ist – bei den Rathauswahlen in Nizza erhielt ihre Liste im März 2008 drei Prozent, bei einer Bezirksparlamentswahl im selben Jahr auch einmal 7,7 Prozent in einem Wahlkreis – und sich in jüngerer Zeit an die dominierende rechtsextreme Wahlpartei in Gestalt des Front National (FN) angenähert hat. Andernorts bleibt man eher auf Abstand zum FN, sowohl aus Konkurrenz- und Rivalitätsgründen als auch aufgrund ideologischer Differenzen: Die Partei von Marine Le Pen stellt allein den Nationalstaat in den Mittelpunk und sieht ihn von regionalen Bestrebungen und von Europa eher bedroht, während die Identitaires auch lokale und regionale »Identitäten« - etwa elsässische, bretonische und normannische – sowie die »europäische Kulturgemeinschaft« hochhalten. Ferner bevorzugt die »identitäre Bewegung« an den meisten Orten den außerparlamentarischen Aktivismus, vor allem gegen die »islamische Invasion« (etwa auch in Gestalt von Happenings in von Moslems besuchten Schnellrestaurants mit Schweinemasken, wie in Lyon), gegenüber parteiförmiger Betätigung. Die Gruppierung in Nizza beansprucht laut eigenen Angaben, 600 Mitglieder zu haben, wobei solche Zahlen immer mit größter Vorsicht zu genießen sind.

Die Kernorganisation Bloc identitaire wurde offiziell im Frühjahr 2003 gegründet, doch seine Strukturen entstanden etwas früher, ihre Jugendorganisation – unter ihrem damaligen Namen Jeunesses identitaires - wurde im September 2002 ausgerufen. Die Organisation übernahm damals die Nachfolge der Sammelbewegung Unité Radicale, die ungefähr mit der deutschen NPD vergleichbar war, aber aus etwa zehn teilautonomen Untergruppierungen bestand. Unité Radicale wurde am 06. August 2002 verboten, nachdem eines ihrer Mitglieder, der damals 25jährige Maxime Brunerie, bei einer individuellen Aktion am 14. Juli desselben Jahres (dem französischen Nationalfeiertag) aus einem Karabinergewehr auf Staatspräsident Jacques Chirac geschossen hatte.

Die »Identitären« bildeten de facto die Nachfolgeorganisationen, versuchten aber in den folgenden Jahren, Kontinuitäten zu der Vorläufervereinigung in vielfacher Hinsicht zu kappen. Nicht nur, um nicht selbst (unter dem Vorwurf der Fortführung einer illegalen Organisation) verboten zu werden, sondern auch im tatsächlichen Bemühen um ideologische oder symbolische Erneuerung, um den eigenen Einfluss zu vergrößern. Unité Radicale war etwa betont antisemitisch gewesen und gab sich dabei auch auf demagogische Weise pro-palästinensisch (während intern bei Versammlungen dazu etwa 2001 gesagt wurde: »Diesem Wegbegleiter von heute geben wir eine Kugel in den Kopf, wenn wir ihn nicht mehr benötigen!«). Dagegen schwor die französische »identitäre« Bewegung bei einem europaweiten »Konvent« am 17. und 18. Oktober 2009 in Orange (Südostfrankreich) in Frankreich offiziell jedem »Antisemitismus und Antizionismus« ab. Während die übrige extreme Rechte oft durch die Frage der ideologischen Projektionen auf den Nahostkonflikt gespalten wird – soll man Juden oder Araber stärker hassen? – proklamiert die Organisation seitdem ein Heraushalten aus dem Konflikt, der eigene Interessen wenig tangiere, unter dem Motto: »Weder Kippa noch Palituch!« Eine Positionierung, die auch durch den deutschsprachigen Ableger unter dem Namen »identitäre Bewegung« jüngst ins Deutsche übersetzt und Übernommen wurde. Dadurch wird versucht, die stark emotional-ideologisch aufgeladenen Symbolkonflikte, die es auch in der extremen Rechten zum Thema Israel/Palästina gibt, zu umschiffen und hinter sich zu lassen. Zugleich meinen die Anführer der »Identitären«, das Auseinanderklaffen der Positionen zu dem internationalen Konflikt sowie eine zu starke Betonung des Antisemitismus – mit dem heutzutage nicht mehr sehr viel zu gewinnen sei – habe von der Konzentration auf den Hauptfeind, nämlich die (besonders auch moslemische) Einwanderung in Europa, abgehalten. Gegen diese gelte es, alle Kräfte zu bündeln.

Am 03. und 04. November 2012 fand in Orange zum zweiten Mal ein europaweiter »Konvent« der Bewegung mit rund 500 Teilnehmern – gegenüber rund 600 beim Mal zuvor – statt. Die Ortswahl ist dabei kein Zufall: Bürgermeister der französischen Stadt mit rund 30.000 EinwohnerInnen ist seit Juni 1995 Jacques Bompard (seit Juni 2012 auch Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung), der damals dem FN angehörte. Heute leitet er eine den »Identitären« nahe stehende Kleinpartei unter dem Namen Ligue du Sud, in offener Anlehnung an die italienische rassistische Regionalpartei Lega Nord. Letztere war auch im Herbst 2012 in Orange wieder mit dabei, vertreten durch ihren besonders fanatischen Europaparlamentarier Mario Borghezio, der unverblümt zur Verteidigung der »weißen Rasse« aufrief. (Das Echo dazu in der französischen Presse war den Veranstaltern anscheinend unlieb, jedenfalls verbannten sie den AFP-Korrespondenten deswegen aus dem Saal.) Ansonsten stand die internationale Beteiligung aber dieses Mal gegenüber jener im Oktober 2009 zurück. So blieben die FPÖ und der belgische Vlaams Belang bei diesem Mal Orange fern, wohl hauptsächlich aus Rücksicht auf den FN als »Bruderpartei«. Dagegen waren diese Parteien drei Jahre zuvor präsent, ebenso wie der schweizerische SVP-Abgeordnete Dominique Baetti.

Anwesend waren dagegen deutsche Beobachter, von den »rechtsintellektuellen« Publikationen Blaue Narzisse und Sezession. Vor allem die Erstgenannte beobachtet die »Identitären« mit viel Interesse und Hoffnung. Am 30. Oktober 2012 kam es unterdessen zu dem ersten öffentlichen Auftritt des Phänomens in Deutschland, auch wenn er nur kurz dauerte. Zur Eröffnung der »Interkulturellen Wochen« in der Stadtbibliothek von Frankfurt/Main tauchten drei maskierte junge Individuen auf, die vor den rund 100 Anwesenden zu Technomusik zu tanzen begannen – wodurch sie die Blicke auf sich zogen – und dabei Schilder hochhielten mit der Aufschrift: »Multikulti wegbassen! «

Die Abkürzung, die die Träger von Geister- und Guy Fawkes-Masken dabei hochhielten – IBD (für »Identitäre Bewegung Deutschland«) – war den AugenzeugInnen dabei gänzlich unbekannt. Sie erschloss sich den BetrachterInnen erst ab dem folgenden Tag, an dem die Szene in einem Video auf Youtube zu sehen war. Dieses Mal unter dem, den LeserInnen bereits bekannten, Titel »Tanz die Reconquista«. Und unterschrieben mit »Karl Martell«. Also dem Namen jenes fränkischen Kriegers, der im Jahr 732 bei Poitiers in Westfrankreich eine Truppe arabischer Reiter – welche allerdings, entgegen der Geschichtslegende vom »Ansturm des Islam«, im Dienste spanischer katholischer Feudalherren vorrückten – besiegte. Ein historisches Ereignis, das bis heute von vielen Legenden umwoben ist und in der französischen extremen Rechten als »sinnstiftendes« Identifikationsmerkmal dient: Die Jugendorganisation Génération identitaire besetzte deswegen am 20. Oktober 2012 die Baustelle einer Moschee in Poitiers, unter Bezugnahme auf den alten Karl.

Die Webseite »Antinazi« kommentierte dazu, die Anwesenden hätten in Frankfurt wohl eher „an einen verfrühten Halloween-Auftritt (erinnert gefühlt), bei dem Süßes oder Saures erbettelt werden sollte." Wir können dazu nur meinen: Gebt Ihnen Saures!

Nachwort: Seit dem kurzen Auftritt in Frankfurt haben die »Identitären« in verschiedenen deutschen Städten und Regionen (wie im Taunus) Facebook-Seiten eingerichtet, auf denen oft schnell Hunderte von »Fans« zusammen kamen – oft aber durch Rekrutierung aus der klassischen Naziszene. Die Berliner Zeitung merkt dazu aber am 11. November 12 an, in der deutschen Hauptstadt, wo die entsprechende Seite zu dem Zeitpunkt 250 Facebook-Freunde aufwies, bestünde die Bewegung bislang nur aus »gerade mal drei Aktiven: einem Polizeischüler, einem Abiturienten und Johannes S., einem Blaue Narzisse-Autor«. Abzuwarten bleibt, ob sich an der Stelle noch etwas Neues entwickelt, oder es sich nur um ein Modephänomen handelt.