Rostocker Schnellverfahren
Neun Jahre nach dem Pogrom gegen Flüchtlinge und vietnamesische VertragsarbeiterInnen in Rostock-Lichtenhagen findet vor dem Schweriner Landgericht seit dem 20. November 2001 ein Prozess gegen drei mutmaßliche Brandstifter des Abends vom 24. August 1992 statt. Die über drei Tage andauernden Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen waren der Anfang einer Welle von Angriffen auf Flüchtlinge, Asylbewerberheime und MigrantInnen in ganz Deutschland. Dass bis heute die Umstände der Ereignisse nicht aufgeklärt worden sind, Ermittlungen gegen Polizeiführer eingestellt wurden und es erst jetzt wieder zu einer Verhandlung gegen Täter von damals kommt, gleicht einer Fortführung der Angriffe mit anderen Mitteln.
Die Vorgeschichte
Die Schweriner Landesregierung hatte in der Plattenbausiedlung Rostock-Lichtenhagen eine Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) errichtet. Das einer solchen Einrichtung zugrundeliegende Konzept hatte damals das sächsische Inneministerium unter dem CDU- Innenminister Heinz Eggert eingebracht. Flüchtlinge sollten zentral erfasst, überprüft und erst dann verteilt werden. In Rostock führten überlange Bearbeitungszeiten zwischen Aufnahme und Weiterverteilung dazu, dass immer mehr Menschen über Tage vor der ZASt ohne Geld und sanitäre Versorgung campieren mussten. Stadt und Land hielten diesen Zustand über Monate aufrecht - sozusagen als Abschreckung.
Man hoffte, dass bald die Gesetze geändert und nicht noch mehr Asylsuchende kommen würden.1 Zwei Wochen vor der geplanten Verlegung der ZASt meldete sich eine Bürgerinitiative »Interessensgemeinschaft Lichtenhagen« per Anruf bei regionalen Tageszeitungen: »Wenn die Stadt nicht bis Ende dieser Woche für Ordnung sorgt, dann machen wir das.« Es war klar, was damit gemeint war. Dennoch enthielt der polizeiliche Einsatzbefehl lediglich allgemein gehaltene Standardfloskeln, jedoch keine konkreten Maßnahmen.
Der Verlauf des Pogroms
Am Sonnabend, den 22. August 1992, nachmittags: Immer mehr Menschen ziehen vor die ZASt, bald fliegen die ersten Steine. Ziel sind auch die Wohnungen der vietnamesischen VertragsarbeiterInnen, die neben der ZASt im selben Gebäudekomplex untergebracht sind. Die zunächst 35 anwesenden Polizeibeamten halten sich zurück, »Wir sind zunächst von einem Bürgerprotest ausgegangen, dem man nicht mit Helm und Schild begegnen darf.«2 Die Angreifer versuchen in das Haus einzudringen, scheitern aber an der eigenen Unentschlossenheit.
Es wird dunkel. Die Zahl der Angreifer wächst auf ca. 300, umringt von etwa tausend Zuschauern, jeder Wurf wird von Parolen und Klatschen begleitet. Auch die mittlerweile um einen Bereitschaftszug verstärkte Polizei wird massiv, unter anderem mit ihren eigenen Gaskartuschen, angegriffen. Polizeiautos gehen in Flammen auf. Warnschüsse werden abgegeben. Angeforderte Wasserwerfer treffen gegen 2 Uhr nachts ein. Sie brauchen für den Weg aus Schwerin - wohin sie in der Woche zuvor verlegt worden waren - über vier Stunden. Ihr Einsatz vor Ort ist zurückhaltend. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Polizeifunk abgehört wird. Die Auseinandersetzungen dauern bis 5 Uhr morgens.
Am Sonntag, den 23. August 1992, wiederholen sich diese Szenen vor dem Sonnenblumenhaus. Wieder dringen Angreifer kurzzeitig in das Haus ein. Die Bewohner ziehen sich in die oberen Stockwerke zurück. Die Polizei versucht zeitweise, einen Ring um das Haus zu bilden, bekommt aber - offensichtlich ohne Konzept agierend - die Lage nicht unter Kontrolle. Unter der Menge von 3000 Menschen macht sich Volkfeststimmung breit. Lichtenhagen ist mit Autos aus Hamburg, Lübeck und Niedersachsen zugeparkt. Im Verlauf des späten Abends kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Sie wird von bis zu 500 Angreifern immer wieder mit Steinen, Knallkörpern und Brandflaschen beworfen. Erst an diesem Abend um 22 Uhr wird durch die Rostocker Polizeiführung in Abstimmung mit dem Innenminister landesweit Alarm ausgelöst.3
Gegen 1 Uhr gelingt es der Polizei, Angreifer abzudrängen. Zur selben Zeit treffen mehrere Hundertschaften aus Hamburg vor Ort ein. Gegen 1.30 Uhr flüchten die letzten Rassisten, als etwa 150 AntifaschistInnen mit einer Spontandemonstration vor das Haus ziehen. Etwa 60 Antifas werden auf dem Rückweg aus ihren Autos heraus verhaftet.4 Montag, der 24. August 1992: Der Unterricht an den Schulen in Lichtenhagen wird um 10 Uhr beendet. Wieder versammeln sich um das Haus Menschen, vor allem Jugendliche. Die ZASt wird geräumt. Die VietnamesInnen bleiben.
Ihre Vertreter und andere Personen, die sich ebenfalls noch im Sonnenblumenhaus aufhalten, informieren auf unterschiedlichen Wegen die Rostocker Polizei, dass sie weiterhin Schutz benötigen. Bei der Polizeidirektion Rostock gibt es am Nachmittag eine Besprechung mit dem damaligen CDU-Bundesinnenminister Rudolf Seiters, dem Chef der Bundesgrenzschutzleitung- Ost, Fritsch, Landesinnenminister Lothar Kupfer (CDU) und dem Rostocker Polizeidirektor Siegfried Kordus, über deren Inhalt bis heute nichts bekannt ist. Eine weitere Kräfteanforderung an Polizeien anderer Länder wird trotz bestehender Angebote nicht gestellt. Am Abend des 24. August 1992 konzentriert sich die Polizei zunächst hauptsächlich auf einer Kreuzung vor dem Haus.
Dort wird sie kurz nach 20 Uhr von mehreren Seiten angegriffen. Zur selben Zeit werden die letzten beiden Hamburger Hundertschaften aus dem Geschehen herausgelöst, sie müssen mangels Anforderung nach Hamburg zurück. 21 Uhr : Die verbliebenen Polizeikräfte vor dem Haus werden förmlich eingekesselt, andere stehen in der Nähe herum; der Einsatz erscheint wieder völlig planlos. »Störer« sollen gegenüber Polizisten vor Ort ein »Verhandlungsangebot« gemacht haben. Ihre Forderungen waren unter anderem: Besichtigung der ZASt, freies Geleit und ein Lautsprecherwagen.5
Etwa zur gleichen Zeit: Die letzten Züge der Polizei am Haus ziehen sich zurück. Gegen 21.30 Uhr werden aus einer Menge von 500 Nazis die ersten Molotow- Cocktails in die unteren Etagen des Aufganges der VietnamesInnen geworfen. Feuerwehrleute versuchen zu Fuß über den Eingang hinterm Haus mit Handfeuerlöschern die ersten Brände zu löschen, geben aber aus Angst vor den Angreifern kurz darauf auf. Diese dringen wenig später ins Haus ein und treffen auf Vietnamesen, die den Treppen-aufgang verteidigen. Danach wird auch der Aufgang der ZASt in Brand gesetzt. Von unten sind im Haus Menschen an den Fenstern zu sehen, bei einigen brennt Licht.
Um das Haus befinden sich bis zu 3000 Beifall klatschende Menschen. Man steht herum, quatscht und trinkt Bier. Die Rechte n rufen »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!«, »Sieg Heil« und »Zugabe«. Im Haus kann man auch in den oberen Etagen vor Qualm kaum noch atmen. Etwa 150 VietnamesInnen, deutsche UnterstützerInnen, der Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter, ein Team des ZDF und Wachschutzleute können sich in letzter Minute durch das Aufbrechen einer Dachtür auf`s Dach des Gebäudes retten. Erst um 22.50 Uhr, nachdem die Polizei wieder vorrückt, können die Löscharbeiten beginnen.
Während der ganzen Zeit war in der Einsatzzentrale der Polizei niemand zu erreichen. Der Rostocker Polizeichef und designierte LKA-Chef Siegfried Kordus hatte sich gegen 20.10 Uhr für drei Stunden »zum Hemdwechseln« nach Hause zurückgezogen, Innenminister Kupfer tat gegen 20.15 Uhr das gleiche und auch Kordus Stellvertreter Jürgen Deckert war ab 19.35 Uhr »nicht mehr erreichbar«.6 Berichten von Polizeiführern zufolge hatte sich während der Zeit des Brandes der Einsatzleiter Deckert zusammen mit dem Oberstaatsanwalt Neumann über 20 Minuten zur Beratung wegen der »Forderungen« zurückgezogen und auch danach keine Einsatzanweisungen mehr gegeben. Es gibt eine Art »Waffenstillstand mit den Störern«.7
Schon zu Beginn der Ereignisse und in den Tagen darauf waren zahlreiche Neonazikader in Lichtenhagen anwesend. Personen aus dem Spektrum der FAP, der Nationalistischen Front, der Hamburger Nationalen Liste, der Deutschen Alternative und der Berliner Gruppe »Wotans Volk« waren angereist, genauso wie Vertreter der österreichischen VAPO und der schwedischen VAM.8 Auch das damalige Auto des Hamburger Neonazianführers Christian W. soll laut damaligen Berichten mit einer telefonierenden Person gesehen worden sein.9 Ebenfalls gesichtet wurde demnach der Berliner Neonazi Oliver Schw.
Am Tag nach der Brandnacht, nachdem über drei Tage die Einsatzleitung aus nicht nachvollziehbaren Gründen allein in den Händen der Rostocker Polizeiführung lag, wurde die Führung durch die Landespolizeizentrale übernommen. Umgehend wurden den Einsatzkräften bereits Monate zuvor beschaffte Ausrüstungen zur Verfügung gestellt und zusätzliche Polizeifunkfrequenzen in Betrieb genommen. Bis zum Mittwoch lieferten sich rechte Jugendliche und Naziskinheads noch Auseinandersetzungen mit der Polizei. Als AntifaschistInnen am 29. August 1992 dann zu einer Großdemonstration nach Rostock mobilisierten, waren über 3000 Polizisten im Einsatz.
Der norddeutsche Antifa- Konvoi wurde stundenlang von vermummten MEK-Einheiten bei Bad Doberan festgehalten; nur nach mühsamen Verhandlungen konnte die Demonstration überhaupt losgehen.10 Es stellte sich die bis heute unbeantwortete Frage: Gab es im Vorfeld Pläne, die Situation in Lichtenhagen eskalieren zu lassen? Wenn ja, wer war an den Überlegungen beteiligt? Oder waren die Ereignisse nur das Ergebnis einer Verkettung von unglücklichen Zufällen verbunden mit einer Reihe persönlicher Fehlentscheidungen? Einem Untersuchungsausschuss des Schweriner Landtags gelang es nur unzureichend, die Verantwortlichkeiten bei Polizei und Politik zu klären. Auch die Strafverfahren wegen fahrlässiger Brandstiftung und unterlassener Hilfeleistung gegen den Rostocker Polizeidirektor Kordus und dessen Vize Deckert wurden eingestellt.11
Kordus hätte lediglich die Gefahrenlage falsch eingeschätzt, Deckert sei mit dem über drei Tage andauernden Einsatz überfordert gewesen. Ähnlich lax verfuhr die Justiz auch mit den rechten Angreifern. Immer wieder entschuldigte die Justiz ihre magere Ausbeute damit, dass die Polizei ihr keine Videoaufnahmen und auch sonst wenig Beweise vorgelegt habe. Wie auch im jetzigen Prozess deutlich wird, machte sich offenbar niemand die Mühe, die vorhandenen Aufnahmen mehrerer Kamerateams, die das Geschehen aus nächster Nähe vom Dach einer Kaufhalle minutiös festgehalten hatten, intensiv auszuwerten.
Der Prozess vor dem Landgericht Schwerin und seine Vorgeschichte
In einem Prozess vor dem Amtsgericht Rostock, dem bisher einzigen gegen Personen, die das Haus in Brand setzten, wurden im Frühjahr 1993 die Schweriner Neonazis Sven Abel, Enrico Kirschke und Rene Kaiser wegen schwerer Brandstiftung und Landfriedensbruch zu Haft- und Bewährungsstrafen zwischen drei und zwei Jahren verurteilt. Die damals Verurteilten waren zusammen mit den jetzigen Angeklagten in Lichtenhagen. Sie hatten sich auf Fernsehbildern des ZDF wiedererkannt, wie sie in Räume im ersten Stock der ZASt eindrangen, dort Fenster zerschlugen und versuchten, die Gardinen anzuzünden. Im Rahmen der Ermittlungen machten fast alle Mitglieder der Schweriner Gruppe, die selbst von der Polizei der gewalttätigen rechten Skinheadszene zugeordnet wurden, umfangreich Angaben zu den Ereignissen.
Nachdem das Verfahren gegen die restlichen Mitglieder der Gruppe von der Rostocker Staatsanwaltschaft an die Staatsanwaltschaft Schwerin abgegeben wurde, geschah lange Zeit nichts. Die Haftbefehle waren ohnehin außer Vollzug gesetzt worden. Im April 1995 erhob die Staatsanwaltschaft Schwerin dann Anklage gegen Ronny Sanne (27), Andre Bohs (28), Enrico Palletschek (28) und Sven Müller (29) wegen versuchten Mordes, schwerer gemeinschaftlicher Brandstiftung, schwerem Landfriedensbruchs und Verstoß gegen das Waffengesetz. Bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens vergingen weitere sechs Jahre. Richter Horst Heydorn ließ sich alle paar Monate die Akten vorlegen und verschob dann einen Prozess immer wieder mit dem Vermerk, die Kammer sei »wegen dringender Haftsachen überlastet«.
Zeit genug für Ronny Sanne, Andre Bohs und Enrico Pallatschek so weiter zu machen wie zuvor. Alle drei kannten sich aus dem Schweriner Plattenbauviertel Großer Dreesch und waren schon zu DDR-Zeiten als rechte Hooligans aufgefallen. Mit Beginn der 90er Jahre waren sie offen rechte Skinheads, jagten MigrantInnen und Linke in Schwerin, wurden dafür manchmal auch zu Bewährungsstrafen verurteilt, saßen kurze Haftstrafen ab, kamen wieder raus und machten weiter. Ronny Sanne und Enrico Palletschek beispielsweise wurden noch 1998 straffällig, als sie auf der Fahrt zu einem Auswärtsspiel von Hansa Rostock im Zug volksverhetzende Lieder sangen und Reisende angriffen.
Möglich waren ihre Aktivitäten auch, weil die Schweriner Polizei seit Beginn der 90er Jahre vor allem gegen die wenigen Linken, Punks und AntifaschistInnen in der Stadt vorgeht. Zuletzt endete ein Polizeieinsatz im Juli 1999 in einem Desaster. Da hatten Naziskinheads junge Punker vor einem linken Jugendclub provoziert; bei der anschließenden Auseinandersetzung griff die Polizei zugunsten der Naziskins ein und verhaftete zehn linke Jugendliche, die teilweise über Stunden in einer Schweriner Polizeiwache an Heizungen angekettet wurden und halbnackt auf dem Betonfußboden liegen mussten. Und die einzige aktive Antifagruppe in Schwerin, die Autonome Antifa Schwerin (AAS) muss im vierteljährlichen Verfassungsschutzbericht des Landes wegen angemeldeter Infostände als Beweis für die Existenz von »Linksextremisten« in Mecklenburg- Vorpommern herhalten. Der Vorsitzende Richter am Landgericht Schwerin Horst Heydorn hatte wohl jetzt gehofft, das ganze Verfahren möglichst unbemerkt von der Öffentlichkeit durchziehen zu können.
Doch er sollte sich irren: Der Ausländerbeauftragte Rostocks, Wolfgang Richter, und der Vietnamese Nguyen do Thinh meldeten sich als Nebenkläger. Sie waren zum Zeitpunkt des Brandes im Haus, ein Umstand, der dem Gericht bis zum November 2001 völlig unbekannt schien. Die Öffentlichkeit, die jetzt entstand, hinderte Heydorn keineswegs, wenige Tage vor Prozessbeginn das Verfahren gegen Sven Müller, wegen Verjährung einzustellen. Sven Müller, der jahrelang als einer der Drahtzieher der Naziszene in Schwerin galt und »Führer« der Gruppe in Lichtenhagen gewesen sein soll, war von der Staatsanwaltschaft »nur« schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen worden. Der Prozess begann ohne ihn, wogegen von der Nebenklage Rechtsmittel eingelegt wurde.
Gespielte Reue vor Gericht
Im Prozess präsentieren sich die drei Angeklagten nun als reuige Schäfchen, die angeblich längst aus der rechten Szene in Schwerin ausgestiegen sind. Enrico Palletschek entschuldigte sich sogar bei den Opfern – eine für die Nebenkläger nicht ernst gemeinte Entschuldigung, da er gleichzeitig nicht bereit ist, auf ihre Fragen zu antworten. Die bisherigen Zeugenaussagen machen vor allem deutlich, dass die Gruppe tatsächlich am Abend des 24. August 1992 nach Lichtenhagen gefahren war und sich dort an den Angriffen beteiligt hatte. Nur Brandflaschen und Steine wollen die Angeklagten nie angefasst haben. Ein weiteres Mitglied der Gruppe, das nicht angeklagt wurde, weiß wie man Molotow-Cocktails wirft. Frank Schmidt, Spitzname »Goebbels«, der mittlerweile als verschollen gilt, verübte schon Ende Juli 1992 einen Brandanschlag auf das Flüchtlingsheim in Boizenburg - zusammen mit dem ersten NPD-Kreisverbandsvorsitzenden in Mecklenburg-Vorpommern, Rüdiger Klasen.
Bislang zeichnet sich der Prozess dadurch aus, dass die Zeugen entweder mit den Angeklagten sympathisieren und deshalb nichts aussagen. Oder sie haben Angst, so wie die Hauptbelastungszeugin der Anklage. Nach ihren Aussagen im September 1992 war sie mehrfach von Frauen aus dem Umfeld der Naziskinclique angegriffen und zusammengeschlagen worden und hatte deshalb Schwerin auch für einige Zeit verlassen. Ob sich die Hoffnung der Nebenkläger erfüllen wird, endlich Licht ins Dunkel der Begleitumstände jener Nacht des 24. August 1992 zu bringen, bleibt allerdings offen. Immer wieder versucht Richter Heydorn den Angeklagten nahe zu legen, dass sie ja nur aufgrund ihrer widrigen Lebensumstände – wahlweise Heimunterbringung, Alkoholismus und mangelnde Perspektiven – zu rechten Schlägern geworden sind. Letztendlich können sich die Angeklagten relativ selbstsicher zurücklehnen. Ihnen droht eine Verurteilung nach dem Jugendstrafrecht, da sie zur Tatzeit zwischen 17 und 19 Jahren alt waren.
Mehr als Bewährungsstrafen – vor allem angesichts des langen Zeitraums – muss keiner der Angeklagten befürchten. Außerdem hoffen sie darauf, dass Staatsanwaltschaft und Gericht ihnen die Einstellung des Verfahrens nach der Beweisaufnahme anbieten. Festzuhalten bleibt, dass der ausgeprägt schwache Ermittlungseifer der Polizeibeamten dazu geführt hat, dass trotz vieler Hinweise eine ganze Reihe von bekannten Neonazifreunden der Angeklagten nicht ermittelt wurden – jene Hamburger und Neubrandenburger Naziskins beispielsweise, die die Schweriner Gruppe vor dem Sonnenblumenhaus am 24. August 1992 traf. Auch wäre es sicherlich falsch, zu denken, dass mit einer Verurteilung der drei Angeklagten auch nur annähernd für Gerechtigkeit gesorgt wäre. Denn die Verantwortung für Rostock-Lichtenhagen, für tausende weitere Angriffe und für die über einhundert Toten des rechten Terrors tragen vor allem auch PolitikerInnen, die sich dafür zumeist weder entschuldigt noch dazu bekannt haben.
Die Folgen von Rostock
Neonazis und Naziskins überall in Ost- und Westdeutschland begriffen die Nächte von Rostock-Lichtenhagen als Chance zum Weitermachen. Sie bekamen mehr Zulauf als je zuvor. Vielerorts erreichten sie eine Stärke, die sie später in die Lage versetzte, eine rechte Jugendkultur zu etablieren. Mit Angriffen auf Flüchtlingsheime konnten militante Aktionsformen flächendeckend geübt werden, während man gleichzeitig um eine Akzeptanz auf breiter Basis bei der Zielrichtung wusste. Es folgte im November 1992 der mörderische Brandanschlag von Mölln und dann andere. Die politischen Folgen waren genauso verheerend. SPD, FDP, CDU und CSU schürten die rassistische Hetze weiter und nutzten die Angriffe, um die Opfer zu Tätern zu machen und das in Artikel 16 Grundgesetz verankerte Grundrecht auf politisches Asyl im Sommer 1993 de facto weitgehend abzuschaffen.
Verantwortung lässt sich nicht abschieben
Und auch die Antifabewegung muss sich mit ihrem eigenen Anteil an dem Pogrom und den Folgen auseinandersetzen. 1997 hat sich das AIB schon einmal mit der Entscheidung des Plenums von AntifaschistInnen befasst, das am Nachmittag des 23. August 1992 entschied, nicht direkt gegen den Mob vor dem Sonnenblumenhaus vorzugehen und am Tag der Brandnacht - noch unter dem Eindruck der Verhaftungen vom Vorabend - beschloss, überhaupt nicht mehr organisiert nach Lichtenhagen zu fahren: »Seit Jahren hatte man mit moralischen Argumenten Zivilcourage eingefordert, den schweigenden AugenzeugInnen etwa des 9. November 1938 zu Recht vorgeworfen, durch ihr Zuschauen mitschuldig zu sein. Nun, selbst in eine vergleichbare Situation geraten, war die Angst um den eigenen weißen Hintern offenbar größer.
Den moralischen Ansprüchen entsprach kein Bewusstsein darüber, wie man sich in der konkreten Situation selbst zu verhalten habe. Weder hatten wir uns selbst als Faktor der Geschichte ernst genommen, noch hatten wir uns ernsthaft klar gemacht, dass in solchen Situationen im Zweifel auch Gefahr für unser eigenes Wohlergehen bestehen kann. (...) Ich bin auch nach wie vor der Überzeugung, dass wir echte Chancen hatten, den Mob zu verscheuchen.«12 Zwar merken die damals Beteiligten an, dass etliche Antifas am Ort des Geschehens waren und ein wirksames Eingreifen auch mangels - unter diesen Bedingungen notwendiger - Kommunikationstechnik scheiterte. Doch zu den Versäumnissen der Antifa-Bewegung gehört auch, dass sich nach den Erfahrungen von Hoyerswerda 1991 nicht ernsthaft auf Handlungsmölichkeiten und Notwendigkeiten angesichts eines Pogroms vorbereitet wurde.
- 1Offener Brief Knut Degeners, damals Pressesprecher der SPD, vom 30. August 1992
- 2Siegfried Kordus, damals Polizeidirektor Rostocks, vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages
- 3Der landesweite Polizeialarm war Voraussetzung dafür, dass zusätzliche Polizeikräfte aus Hamburg eingesetzt werden konnten.
- 4In den Meldungen am nächsten Tag hieß es lediglich, dass die Polizei über 80 Randalierer festnehmen konnte.
- 5Bericht der Polizeibeamten Herzog und Bleeck vor dem Untersuchungsausschuss
- 6Der Spiegel, 28.12.1992
- 7Bericht des Hundertschaftsführers Wenn-Karamnow vor dem Untersuchungsausschuss
- 8vgl. AIB Nr. 20a November/Dezember 1992. Nach Informationen aus schwedischen Neonazi-Kreisen soll der VAM-Aktivist Erik Ru. vor Ort gewesen sein.
- 9 In einem Verfahren gegen den C. Bertelsmann Verlag hat Christian W. im Jahr 2001 durchgesetzt, dass die Behauptung, er habe über Funk den Einsatz der Kameraden kommandiert, nicht mehr verbreitet werden darf.
- 10vgl. AIB Nr. 20a November/Dezember 1992
- 11Das Verfahren gegen Kordus wurde 1994 eingestellt. Der geschulte BKA-Mann (er war 1982 u.a. Leiter des Bonners Referats für politische Ausländerkriminalität) verlor seinen Job als LKA Leiter von Schwerin erst nach einem Skandal um den Auftritt von Prostituierten bei einer Polizeiweihnachtsfeier. Der heute 60jährige lebt im Vorruhestand in Spanien. Das Verfahren gegen Deckert wurde 1999 eingestellt, der heute 50jährige lehrt an einer Polizeifachschule in Mecklenburg-Vorpommern.
- 12AIB Nr.41, S. 12ff, »Fünf Jahre nach Rostock : Ein Blick zurück im Zorn«