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Sozialismus und Antisemitismus

Prof. Moshe Zimmermann, Professor für Deutsche Geschichte an der Hebrew University Jerusalem (Gastbeitrag)
Einleitung

Um den Antisemitismus in der deutschen Vergangenheit zu verstehen, braucht es auch eine Analyse der Behandlung der sog. »Judenfrage« durch die verschiedenen politischen Strömungen. Unser Gastbeitrag soll dazu dienen, das Verhältnis von Sozialismus und Antisemitismus zu beleuchten. Und in der Tat weist eine Analyse auf die Schwächen der pauschalen Erklärungen á la Goldhagen.

Bild: Faksimile aus dem Bildband „Das deutsche Führergesicht“ von 1939

Der Hofprediger Adolf Stoecker war Judenfeind und Anti-Sozialist.

Der deutsche Sozialismus war spätestens seit der Reichsgründung ein Angriffsziel für Antisemiten. Die Tatsache, daß die als jüdisch bezeichneten Personen - Ferdinand Lasalle, Moses Heß, Karl Marx - prominente Sozialisten waren, war für konservative und reaktionäre Politiker Grund genug, um den Sozialismus bzw. die sozialistische Partei als »Judenpartei« anzugreifen und sie auf diese Art zu diskreditieren.

Zu einer direkten Konfrontation kam es aber 1879, nachdem das Deutsche Reich die SPD verbot. Der Mann, der eine neue Partei gründete, um mit den Sozialisten zu konkurrieren, Hofprediger Adolf Stoecker, entdeckte die Judenfeindschaft als Mittel zum Zweck. Seine christlich-soziale Partei hatte bei den Wahlen 1878 den Einzug in den Reichstag verpaßt, und Adolf Stoecker schaltete um auf antijüdische Propaganda. Dieser Schritt zeigt, daß man den Sozialismus nun effektiver mit Hilfe der Judenfeindschaft - seit 1879 Antisemitismus genannt - bekämpfen kann. Von nun an ging es darum, wieder den Sozialismus als jüdische Angelegenheit zu bekämpfen oder gegen diesen Sozialismus, der in der SPD verkörpert war, mit Hilfe eines anderen, nationalen Sozialismus die Wähler zu gewinnen.

Die Taktik der Antisemiten führte die SPD dazu, den Antisemitismus abzulehnen, ihn als »Sozialismus der dummen Kerle« zu bezeichnen. Die Versuchung, nach dem Beispiel des frühen Sozialismus und Frankreich selbst antisemitische Parolen und Argumente zu über nehmen, wurde abgelehnt, und zwar aus einem prinzipiellen Grund: Die Definition der Kernfrage der Zeit - der sogenannten »Sozialen Frage« - war bei Antisemiten und Sozialisten diametral entgegengesetzt: Für Antisemiten war die »Judenfrage« identisch mit der sozialen Frage, für die Sozialisten (d.h. hier für die SPD) war es die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch den Kapitalismus, der nicht mit jüdischem Kapitalismus gleichgesetzt wurde.

Die Diskussion in der SPD um die Jahrhundertwende hatte eine klare politische Aussage hinterlassen: Für den Antisemitismus gibt es keinen Platz. Dabei muß man berücksichtigen, daß die politische Haltung der SPD nicht automatisch bei allen SPD-Wählern oder Mitgliedern jegliche antisemitische Stereotypen auslöschte. In Wort und Bild zeigen sich sozialistische Veröffentlichungen nicht unbedingt frei von den geläufigen judenfeindlichen Klischees. Um solche Klischees loszuwerden, braucht man mehr als nur eine politische Richtlinie einer Partei.

Als die Revolution 1918 ausbrach und die Weimarer Republik gegründet wurde, fielen die Überreste der institutionellen antijüdischen Diskriminierung weg, dank der SPD und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Zwar haben sozialistische Juden sich am Anfang der Republik profiliert, aber der Vorwurf von der «Jüdischen Republik« oder die Gleichsetzung des Judentums mit dem Sozialismus war unbegründet. Trotzdem konnte sich die bekannte Konfrontation wiederholen: Die Antisemiten greifen den Sozialismus (hier die Weimarer Republik) als »Judensache« an. Diesmal befand sich die Sozialdemokratie in Bedrängnis: Man war ein Grundpfeiler des »Systems« und Angriffsziel einer populären nationalen Opposition.

Dies machte auch die Aufstellung von jüdischen Kandidaten für die SPD (aber auch für die KPD) schwierig. Kein Wunder also, daß die Sozialdemokraten, die sich in der Defensive befanden, die Reibungsflächen über die Nichtaufstellung von jüdischen Kandidaten zu reduzieren versuchten. Andererseits wurde der jüdische Abwehrkampf gegen den Antisemitismus am stärksten von der SPD unterstützt, obwohl die Mehrheit der Juden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht SPD-Wähler waren. Als der Nationalsozialismus den politischen Kampf gewonnen hatte, hat er die Sozialisten (und Kommunisten) nicht nur brutal verfolgt, sondern auch über ihre Bezeichnung als »jüdisch« delegitimiert.

Die SPD im Exil und im Widerstand hat die Diskriminierung und Verfolgung der Juden thematisiert und darüber ausführlich berichtet. Auch jetzt war die Haltung von Sozialdemokraten und Sozialisten zwar nicht immer frei von antisemitischen Äußerungen oder Stereotypen. Daraus aber zu schließen, daß auch die deutschen Sozialisten im antisemitischen Klima der 30er keine Ausnahme machten, ist falsch. Der prinzipielle Kontrast zwischen Antisemiten und Sozialisten in Bezug auf die »soziale Frage« hat die Tendenz bestimmt. Für Sozialisten und Sozialdemokraten war ein konsequenter Antisemitismus ein Widerspruch.