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Türkei: Fake-News, Waldbrände, Rassismus und Lynchmobs

Einleitung

Eine Nation, eine Flagge, eine Sprache“ lautete die Doktrin der türkischen Republikgründung. Die Idee eines homogenen Nationalstaats implizierte den Ausschluss anderer Bevölkerungsgruppen und so zieht sich die Gewalt türkischer NationalistInnen sowie ihrer staatlichen VertreterInnen durch die Geschichte des Landes. Eine türkisch-islamische Synthese wurde zur offiziellen Staatsdoktrin und 2018 ging die Erdoğan-Partei AKP mit der extrem rechten MHP ein Bündnis ein.

Screenshot YouTube/IHA

Polizei vor dem Haus der kurdischen Familie Dedeoğulları in Konya-Meram nach der Tat.

Die vor über einem Jahr vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan angeordnete Okkupierung der von der linken Partei "Halkların Demokratik Partisi" (HDP) geführten Rathäuser in kurdischen Städten und die begleitende nationalistische Rhetorik ebnete in der türkischen Gesellschaft wieder einmal den Weg zu offenem Rassismus und Diskriminierung gegenüber Kurd_innen und anderen Bevölkerungsgruppen. Die Ausweitung der Befugnisse von Polizei und „Nachbarschaftswächtern“ in Verbindung mit anti-kurdischen Fake-News hat zu einer steigenden Zahl von Übergriffen geführt. Auch Angriffe auf Einrichtungen der armenischen Minderheit nahmen wieder zu. Da die wenigsten TäterInnen strafrechtlich verfolgt werden, hat sich in der Türkei eine rassistische Lynch-Kultur etabliert.

Am 18. Juli 2019 wurde eine südkurdische Reisegruppe in Uzungöl beim Besuch der Schwarzmeerprovinz Trabzon von türkischen NationalistInnen angegriffen. Der Angriff dauerte mehrere Minuten, dann entfernte die Jandarma – ein paramilitärischer Verband in der Türkei, der dem Innenminister untersteht - die Reisegruppe. Zwei Monate später gri ff in Adana ein Lynchmob Menschen aus Syrien an, zerstörte ihre Geschäfte und hängte türkische Fahnen auf. Ende Mai 2020 war ein 20-jähriger Kurde in Ankara von mutmaßlichen Rassisten auf offener Straße erstochen worden. Der in Patnos in der nordkurdischen Provinz Agirî (türk. Ağrı) geborene Barış Ç. hatte auf dem Balkon kurdische Musik gehört. Nach Verlassen der Wohnung wurde er von drei Männern angegriffen und getötet. Einen Tag zuvor hatte es bereits in Sakarya einen Lynchangriff auf einen kurdischen Wehrpflichtigen gegeben.

Diese Form der nationalistisch motivierten rassistischen Angriffe richten sich häufig gegen Kurd_innen. Sie werden attackiert, weil sie kurdische Lieder singen oder hören, weil sie kurdisch sprechen oder weil sie eben Kurd_innen sind. Viele Opfer solcher Angriffe verloren ihr Leben: Kadir Sakçı (43) und sein 16-jähriger Sohn Burhan wurden am 16. Dezember 2018 in der westtürkischen Kreisstadt Hendek (Provinz Sakarya) mit einer Schusswaffe angegriffen, weil sie Kurdisch miteinander gesprochen haben. Der Vater erlag seinen Schussverletzungen, der Sohn wurde schwer verletzt. In der westtürkischen Stadt Çanakkale war ein 74-jähriger Rentner im Oktober 2019 in einem Krankenhaus von einem Rassisten angegriffen worden, weil er mit seiner Partnerin Kurdisch sprach. Anfang September 2020 kam es erneut in der westtürkischen Provinz Sakarya zu Angriffen auf kurdische Saisonkräfte. Eine 16-köpfige Gruppe aus Şemrex (türk. Mazıdağı) wurde dabei von dem Besitzer einer Haselnuss-Plantage, seinen Verwandten sowie Dorfbewohner_innen attackiert. Der Plantagenbesitzer hatte die Arbeiter_innen zuvor von seiner Terrasse aus als ‚Köterrudel‘ beschimpft.

Gerade die Provinz Sakarya wurde in den letzten Jahren mehrfach zum Schauplatz rassistischer Übergriffe, die teilweise tödlich endeten. Der 19-jährige Saisonarbeiter Şirin Tosun wurde im August 2019 von einer sechsköpfigen Gruppe attackiert und erschossen, weil er Kurdisch gesprochen hatte.

Mitte September 2020 kam es zu einem Angriff auf kurdische Bauarbeiter mit einem Toten und zwei Verletzten in der westanatolischen Provinz Afyon: Der 25 Jahre alte Özkan T. wurde getötet, Fırat T. und Emrah Ö. kamen mit Schussverletzungen in ein Krankenhaus. Am 21. Juli 2021 war in der Region Konya der kurdische Bauer Hakim Dal (43) von Angreifern getötet worden, die ihm zuvor drohend mitgeteilt hatten, dass Kurd_innen in dem Dorf nicht erwünscht seien.

Lynchmord in der Nachbarschaft

Am 12. Mai 2021 hat ein Mob aus 60 türkischen NationalistInnen - mit Brechstangen, Messern und Steinen bewaffnet - die kurdische Familie Dedeoğulları in Konya-Meram angegriffen und fast zu Tode geprügelt. Dabei riefen sie: „Wir sind Nationalisten, euch wollen wir hier nicht haben“. Es ist der Abend des „Arefe-Tages”, dem Vortag des Ramadan-Festes. Zehn Angreifer wurden zwar festgenommen, aber wieder freigelassen und unter Polizeischutz gestellt. Der Anwalt der Familie hatte gegen diese Freilassung Widerspruch eingelegt, doch alle Anträge wurden abgelehnt. Sechs Personen wurden nur kurz inhaftiert, gegen vier weitere ordnete ein Gericht Meldeauflagen an. Bei einem Haftprüfungstermin wurden bei allen Inhaftierten Meldeauflagen als „präventive Maßnahme“ beschlossen, denn in der Landwirtschaft sei jetzt „Haupterntezeit”.

Die angegriffene Familie stammte ursprünglich aus Qers in Nordkurdistan und lebte seit 30 Jahren als einzige kurdische Familie in dem Ort. Am 30. Juli 2021 kam es zu einem erneuten Angriff auf die Familie, bei dem sieben Mitglieder brutal ermordet wurden. Nach dem Überfall im Mai hatte die Familie Kameras installiert: Auf einem Video sieht man, wie Mehmet Altun die Familie erschießt. Bei dem Angriff  starben: Yaşar Dedeoğulları (65), Serap Dedeoğulları (36), Serpil Dedeoğulları (32), Sibel Dedeoğulları (30), İpek Dedeoğulları (57), Metin Dedeoğulları (45) und Barış Dedeoğulları (35).

Die behördliche Darstellung spricht von einem „Nachbarschaftsstreit“. Die Generalstaatsanwaltschaft hat in einer Erklärung die Deutung der türkischen Regierungskreise übernommen: Der „Vorfall“ resultiere aus einem seit elf Jahren andauernden Konflikt zwischen zwei benachbarten Familien und sei nicht rassistisch motiviert. Dieser Darstellung haben lokale Menschenrechtsvereine in einer gemeinsamen Stellungnahme widersprochen: „Der Hauptgrund der vorangegangenen Angriffe auf die Familie war ihre ethnische Identität. Daher kann das stattgefundene Massaker nicht mit einer einfachen Streitigkeit erklärt werden“.

Die Tat geschah zudem nicht im luftleeren Raum: Medien und Politiker_innen aus dem Spektrum der rechts-nationalistischen Regierungspartei "Adalet ve Kalkınma Partisi" (AKP) behaupteten öffentlichkeitswirksam, die PKK1 (also Kurd_innen) seien für Waldbrände in der Türkei verantwortlich. In der Küstenstadt Manavgat patrouillierten deswegen bewaffnete Männer und suchten nach Kurd_innen. Laut dem „nd“ hatten sich, nach dem ersten Angriff auf die Familienmitglieder, die Angreifenden als „Idealisten“ (Ülkücü = Graue Wölfe) bezeichnet und abwertend über die kurdische Identität der Familie Dedeoğulları gesprochen.2

Angreifer keine Unbekannten, sondern Nachbarn

Die AngreiferInnen der Dedeoğullarıs waren keine Unbekannten, sondern NachbarInnen. „Wir werden nicht erst seit gestern wegen unserer kurdischen Herkunft Opfer von rassistischen und diskriminierenden Übergriffen durch die Familien Keleş und Çalık“, hatte Barış Dedeoğulları nach der Tat im Mai 2021 berichtet.3

Fünf Tage nach dem Mord an der Familie wurde der Haupttäter Mehmet Altun gefasst. Der 33-Jährige hatte, bevor er vom Tatort flüchten konnte, in fünf Räumen Benzin ausgeschüttet und das Wohngebäude angezündet. Im Zusammenhang mit der Tat wurden Haftbefehle wegen vorsätzlichen Mordes gegen zehn von 14 Festgenommenen vollstreckt. Die Tat soll in einer WhatsApp-Gruppe geplant worden sein, womit der Täter kein „Einzeltäter“ ist. Nach der Tat im Mai 2021 sei die Gruppe gegründet worden um den Mord vorzubereiten.

Dem Anwalt der Familie wurde vom Chef der Polizei in Konya nahegelegt, den „Vorfall“ als einen „Konflikt zwischen Nachbarn” zu benennen. Der Polizeichef ist laut den kurdischen „ANF News“ ohnehin kein Unbekannter. Als der armenische Journalist Hrant Dink am 19. Januar 2007 in Istanbul vor dem Gebäude seiner Zeitung Agos von einem türkischen Nationalisten erschossen wurde, war er Abteilungsleiter des Geheimdienstes "Millî İstihbarat Teşkilâtı" (MIT) in Trabzon, dem Wohnort des Täters und unternahm nichts zum Schutz von Dink. Beim Anschlag auf eine Friedenskundgebung am 10. Oktober 2015 am Bahnhof von Ankara mit 103 Toten und mehr als 500 Verletzten waren ihm zwei Tage im Vorfeld die Namen der Attentäter bekannt. Diese Informationen ließ er der Antiterrorzentrale aber erst knapp vier Stunden nach dem Anschlag zukommen.

Gerade die aktuell zunehmende Zahl rassistischer Angriffe, Pogrome und Morde gegen Geflüchtete aus Syrien oder Kurd_innen sowie gegen die Infrastruktur der pro-kurdischen Partei HDP müssen im Zusammenhang mit der nationalistischen Mobilmachung des türkischen Staates im Zuge der militärischen Angriffe auf kurdische Gebiete von Rojava und dem Nordirak, besonders in den Kandil-Bergen, gesehen werden.