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Vom Wandel der „Willkommenskultur“

Christian Jakob
Einleitung

Im Sommer 2015 verkündete die Bundesregierung, dass sie mit 800.000 Asylanträgen im laufenden Jahr rechne. Das waren fast doppelt so viele wie im bisherigen „Rekordjahr“ 1992 — eine Dimension, mit der bis dahin niemand gerechnet hatte. Auch die Reaktionen der Medien hatte niemand erwartet:

Foto: Willkommen in Löbtau

Am Tag nach der Veröffentlichung der Prognose „entlarvt“ die BILD-Zeitung „die sieben größten Lügen über Asylbewerber“: Sie weist darauf hin, dass diese niemandem einen Job wegnehmen, nicht besonders häufig kriminell seien und Deutschland sich „diese Art der Zuwanderung nicht nur finanziell leisten kann, wir brauchen sie sogar!“ Einen Tag später heißt die BILD-Titelschlagzeile „Flüchtlingen helfen! Was ich jetzt tun kann“, ihr Chefredakteur ersetzt sein eigenes twitter-Profilbild mit einem „Refugees Welcome!“-Logo.
Manche sprechen daraufhin dem Blatt das diskursmoralische Recht ab, Solidarität mit Geflüchteten zu üben. Zu oft hatte die Bild in der Vergangenheit schließlich gegen Flüchtlinge gehetzt. Andere wundern sich über den Sinneswandel. Doch nicht die Zeitung hatte sich geändert. Geändert hatte sich die Gesellschaft, die Bild hatte die Stimmung bloß erspürt und gespiegelt, wie es ihr Geschäft ist.

Das war die Zeit, in der der „Refugees Welcome“-Hype zur dominierenden sozialen Bewegung angeschwollen war: Solizimmer, Benefizparties, Deutschkurse, Kinderbetreuung, Behördenbegleitung, Anhörungs-Coachings — unzählige Hilfsinitiativen hatten sich im Laufe des vergangenen Jahres gebildet und aufgefangen, was die zusammengebrochene staatliche Infrastruktur nicht leistete. Hätten sich die Schöpfer des „kein mensch ist illegal“- und des „Refugees welcome“-Logos diese einst schützen lassen, sie hätten gut an all den T-Shirts, Pullovern, Taschen und Aufklebern verdient. Flüchtlingssolidarität war von einem Nischenthema autonomer und kirchlicher Gruppen zum popkulturellen Phänomen geworden.

Ein paar Monate später sah die Sache dann wieder anders aus: Nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht in Köln lautete eine BILD-Schlagzeile: „Abgelehnte Asyl-Bewerber beim Kölner Sex-Mob dabei“. Einen Tag später „enthüllte“ die Bild, „warum die Polizei nicht immer die ganze Wahrheit sagen darf“ — dass nämlich 71 Asylbewerber an dem Abend von der Bundespolizei „kontrolliert“ worden waren. Oder: „Die schlimmen Übergriffe der Sex-Mobs in Köln und anderen deutschen Städten erschüttern das Land. Jetzt kommen immer mehr Straftaten von Flüchtlingen und Migranten ans Tageslicht.“

Jede_r kann von dem Blatt halten, was er_sie will, aber es ist ein guter Seismograf für die Stimmung im Land. Und die hatte sich verändert. Deutschland waren die Geflüchteten plötzlich nicht mehr geheuer. Viele Bürger, die mit Teddybären, Brezeln und Wasserflaschen in die Flüchtlingsheime gezogen waren oder zumindest nichts dagegen gesagt hatten, dass andere dies tun, schienen nun bitter enttäuscht: Die, die da gekommen waren, waren zu unqualifiziert, zu religiös, zu jung, zu alt, zu ungehorsam, nicht verfolgt genug, oder, am schlimmsten: Sie stellten Forderungen. Sie waren undankbar. Immer öfter hieß es nun, die Geflüchteten könnten selbst der Bundeskanzlerin ihr Amt kosten. Je radikaler und rassistischer die AfD sich gibt, desto besser scheinen ihre Umfragewerte zu werden.
Die Erfahrung, dass das geflüchtete Subjekt der Solidarität nicht so ist, wie es erwünscht wäre — hat die antirassistische Bewegung bereits gemacht. Es lohnt in diesen Zeiten, daran zu erinnern.

Der Ismen-Codex in der linken, antirassistischen Szene ist verhältnismäßig klar: Neben Rassismus gehören zu den gemeinsam geteilten Tabus üblicherweise Nationalismus, Antisemitismus, Homophobie, Sexismus. Im Regelfall wird auch die Befürwortung des Kapitalismus, religiöser Fundamentalismen und dogmatischer Lehren abgelehnt. Nun gibt es, zweifellos, Flüchtlingsorganisationen und -subjekte, die nach weiß-deutsch-linken Maßstäben als fortschrittlich durchgehen.
Es gibt aber ebenso Exilorganisationen und Individuen, bei denen das anders ist.  Wer sich mit den Liberation Tigers of Tamil Eelam, der Socialist Party of Iran, der Maoist Party of Nepal, dem Rassemblement du Peuple Togolais oder vielen anderen befasst, wird feststellen, dass ihre Programmatik teils bürgerlich, prokapitalistisch, nationalistisch, antisemitisch, stalinistisch, amerikafeindlich oder mehrere von diesen Dingen sind. Trotzdem sind oder waren sie lange Bezugspunkte und Beteiligte an antirassistischen Organisierungen und Kampagnen — zurecht!

Wer mit Flüchtlingen spricht, der_m kann es passieren, dass er_sie Menschen begegnet, die den Kolonialismus mit dem Argument verteidigen, Weiße seien nun mal von Natur aus klüger und müssten deshalb Afrika führen — am besten auch heute, oder die Genitalverstümmelung für eine begrüßenswerte Praxis halten. Es gibt darunter Fans von Diktatoren, Bewunderer von Hitler oder des Kapitalismus, Israel- und Amerika-Hasser oder Islamisten.
Kurzum: Flüchtlinge sind per se nicht nur nicht links. Sie verletzen linke Glaubenssätze und Überzeugungen mindestens genauso oft wie alle anderen auch. Warum sollte es auch anders sein? Geflüchtet zu sein hat vor allem mit Zwang, nicht mit Gesinnung zu tun. Und die meisten wollen nichts anderes als eine konventionelle bürgerliche Existenz.

Dem Verhältnis zwischen Geflüchteten und Unterstützer_innen ist die Asymmetrie, die Ungleichheit, als Grundkonstante eingeschrieben. Jeder Wunsch nach Solidarität muss damit umgehen. Das gilt nicht nur für den gesellschaftlichen, den historischen Rassismus, der das Feld für alle Interaktionen absteckt oder für die materielle Ungleichheit, es gilt auch für ideologische Differenzen.
Die Deutschen haben versucht, unsere Sprache zu disziplinieren“, erinnert sich etwa der Gründer von „The Voice“, Osaren Igbinoba: „Sagt nicht 'Apartheid'. Sagt nicht 'Lager'! Sagt nicht 'konzentrieren'!, haben sie gesagt.“ Viele linke Deutsche empfinden diese Begrifflichkeit als Relativierung der Shoah. Die Flüchtlinge hatten dafür oft kein Verständnis. Auch den Slogan „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“, hätten linke Deutsche kritisiert: „Es geht nicht um Fluchtgründe, sondern um Bewegungsfreiheit als Grundrecht, haben sie gesagt“, so  Igbinoba.

In solchen Konstellationen ist die Gefahr von Paternalismus, von Brüchen, Verletzungen und Konflikten riesig. Die Idee, zu einem „gemeinsamen Wir“, wie die Gruppe „transact!“ es nennt, zu kommen, scheint da geradezu utopisch. So gab es immer wieder Versuche, getrennte Wege zu gehen, die von beiden Seiten ausgingen. Die einen betrieben Antirassismus ohne Geflüchtete, die anderen erklärten ihn zu einer exklusiven Veranstaltung von Leuten mit schwarzer Haut oder ohne Aufenthaltsrecht. Aber die Geschichte des Verhältnisses von Geflüchteten und deutschen Aktivist_innen zeigt auch den Wunsch, Achtung und Solidarität möglich zu machen. Und so wurden Differenzen immer wieder erstaunlich produktiv gewendet — in einer ganzen Reihe stabiler gemeinsamer Organisierungen.

Die Folge von Differenzen kann also nicht sein, nur noch mit denen gemeinsame Sache zu machen, mit denen Einigkeit herrscht. Es braucht das Bewusstsein dafür, dass es verschiedene politische Perspektiven, Positionen und Biografien gibt, die respektiert werden müssen. Es folgt daraus ein Gebot der kritischen Solidarität. Es ist nicht immer leicht, aber es ist möglich, sich gemeinsam zu organisieren und politische Schnittmengen zu bestimmen, die die Unterschiede nicht ignorieren.

Ähnliches gilt nun auch für die Gesamtgesellschaft und ihre „Willkommenskultur“. Es gibt keinen Grund, an Geflüchtete andere Maßstäbe anzulegen, als an jede_n andere_n auch. Sie brauchen sich den Anspruch auf Schutz und Solidarität nicht erst durch konformistisches Verhalten zu verdienen. Er erwächst nicht aus geteilten Überzeugungen, sondern aus dem, universellen Recht, dort ein gutes Leben suchen zu dürfen, wo dafür die beste Chance gesehen wird.

Im März 2016 erschien von dem Autor: „Die Bleibenden. Wie Flüchtlinge Deutschland seit 20 Jahren verändern" im Christoph Links Verlag.