Skip to main content

Zum Mord an Silvio am 21. November 1992

Einleitung

"Wir gehen hier ausführlicher auf den Mord an Silvio ein. Wir wollen ihn damit nicht als „besonderen Mord“ darstellen und über die weit mehr als 40 Opfer (davon über 20 im Jahr 1992) faschistischen, rassistischen, sexistischen und antisemitischen Terrors seit der Vereinigung stellen, bloß hatten wir alle und ich besonders einen engeren Bezug zu ihm. Und da ist es meiner Meinung nach verständlich, daß mich Silvios Tod sehr viel mehr betroffen hat, als alle anderen Morde zusammen. Menschlichkeit, das sollte eigentlich eine Stärke von uns sein. Wir können noch so gute und „effektiv arbeitende“ Antifa-Strukturen haben, damit werden wir vielleicht hier und da mal ein Neonazi-Treffen verhindern oder auch die Öffentlichkeit über neonazistische Aktivitäten aufklären können, aber damit werden wir keine Gesellschaft verändern. Dazu müssen wir einfach zeigen, daß wir besser sind und dazu gehört als wichtigstes, daß wir anders miteinander umgehen, Gefühle füreinander haben und auch zeigen und uns gegenseitig unterstützen. Ich kannte Silvio einfach, wußte so ein bißchen, wie er war und kannte nur zu gut die Situation, in der er abgestochen wurde. Er hat das gemacht, was unter anderen wir immer wieder propagiert haben und werden: Nicht wegsehen, einmischen, eingreifen! Die Politiker fordern das auch, nennen es „Zivilcourage zeigen“, bloß müssen sie damit etwas anderes meinen. Oder wie ist es sonst zu erklären, daß Silvios Freundinnen und Freunde mit einer Menge Falschinformationen und Verunglimpfungen von Seiten der Medien und der Politiker konfrontiert wurden und die Mörder wieder einmal verharmlost werden." (Jemand aus der AIB-Redaktion)

»Als man meinen Freund ermordete, bin ich auch gestorben. Weil ich noch lebe, lebt Silvio weiter.«

Die Nacht vom Freitag, den 20. auf den 21. November 1992. Vier Leute wollen in eine Disko, in der Silvios Bruder Diskjockey macht. Zu diesem Zeitpunkt ist Silvio noch nicht bewußt, daß er seinen Bruder nie wieder sehen wird. Auf der Zwischenetage des U- Bahnhofs Samariterstrasse, in Berlin-Friedrichshain begegnen sie einer Gruppe von sieben Leuten, 13-18 Jahre alt. Einer von ihnen rempelt einen von Silvios Freunden bewußt an, daraufhin kommt es zu einer kurzen Rangelei. Während dieser „Auseinandersetzung“ wird ein Aufnäher von der Jacke eines Neonazis entfernt. Auf welche Art er entfernt wurde und was es für ein Aufhäher war, konnte bis jetzt nicht ermittelt werden. Beim Weitergehen auf den Bahnsteig, kurz nach der circa 10 Sekunden dauernden Rangelei, meint Silvio, daß es ein „Stolzer Deutscher“ gewesen ist („Stolzer Deutscher“ ist ein Aufnäher mit der Aussage: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“). Das ist bisher die einzige definitive Ansage, die anderen Beteiligten haben keine Erinnerung mehr daran. Da die U-Bahn gerade abgefahren war, entscheiden sie sich kurz darauf, nun doch ein Taxi zu nehmen und wollen deswegen den U- Bahnhof wieder verlassen. Als sie die Treppe wieder hochkommen, stehen die Neonazis formiert da, zwei von ihnen halten ein Messer in der Hand. Schneller als sie die Situation überhaupt begreifen können, gehen die Neonazis bereits mit Messern auf sie los. Silvio wird fünf mal getroffen, davon drei mal in die Brust, seine zwei Freunde werden während der Auseinandersetzung von hinten niedergestochen, die Frau wird mit einem Messer und den Worten: „Dich kriegen wir auch noch! bedroht“. Diese Auseinandersetzung ist begleitet von Sprüchen wie: „Ihr linken Schweine“ usw. Für Silvio und seine FreundInnen kam alles völlig unerwartet, sie hatten nicht den Hauch einer Chance, sie waren völlig unbewaffnet.

Gleich darauf folgt das zweite Verbrechen, was in den Gesetzen als „Unterlassene Hilfeleistung“ beschrieben wird. Einige Minuten später kommt ein U-Bahnzug, der Fahrer lehnt eine Hilfeleistung mit dem Verweis auf den einzuhaltenden Fahrplan ab. Diesem Zug entsteigen zwei Wachschutzleute, sie sind vollauf damit beschäftigt, ihren Hund zu beruhigen. Eine zufällig die Treppe herunterkommende Frau informiert die Bahnhofsaufsicht und erhält die Antwort: Ich weiß, da war schon mal jemand. Die Frau probiert notdürftig mit Taschentüchern Erste Hilfe zu leisten. Die nächste U-Bahn kommt, immer noch keine Hilfe, außer von der Frau (die U- Bahnen fahren im 10-Minuten Rythmus). Dann kommen ein paar Polizisten, später noch zwei Zivilpolizisten, die sich mit ihren Fragen sehr wichtig tun, an Erste Hilfe auch keinen Gedanken verschwenden. Viel zu spät kommen Krankenwagen und Feuerwehr, die sich endlich um die Verletzten kümmern. Es ist bis jetzt noch unklar und wird es wohl auch bleiben, ob Silvio bei sofortiger Erster Hilfe noch leben könnte. Wegen dem Mord fand in der gleichen Nacht eine Spontandemonstration von circa 150 Leuten, am Samstag Nachmittag eine mit 1000 und am Sonntag eine mit 3000 Teilnehmenden statt.

Der Jugendklub „Judith Auer“

Die Demo am Samstag ging auch am Jugendklub »Judith Auer« vorbei. Es war schon länger bekannt, daß sich dort jeden Freitag hochrangige Berliner Neonazis (u.a. Arnulf Priem, Oliver Schweigert) trafen.1 Laut „Die Tageszeitung“ (taz) vom 27. November 1992 ließ der Göttinger FAP-Vorsitzende, Thorsten Heise, Priem aus dem Auerklub herausprügeln, weil er diesem vorwarf, Heldengräber zu schänden, indem er sie auf der Suche nach alten Orden und Abzeichen umgräbt und dann plündert. Diese Sachen wurden dann nicht nur auf Flohmärkten u.a. verkauft, sondern z.B. auch im »Judith- Auer«.

Das der "Jugendklub" bei Bedarf dem Stelldichein von Funktionären diverser bundesweiten Neonazigruppierungen diente, machte Vorfall mit dem Neonazi Arnulf Priem deutlich, bei dem u.a. auch die Berichterstattung das Antifaschistischen Infoblatt eine Rolle gespielt haben soll. Folgt man der Darstellung des Chefs der "Deutschen Alternative" Frank Hübner sei es bei den Rauswurf um das alte Thema Michael Kühnen (Homosexualität) gegangen. Ein in der Neonazi-Szene verbreiter Bericht einer Gruppe namens "Brandenburger Autonomnationaler Nachrichten Dienst" (BAND), schildert dass Neonazis der FAP und parteilose Neonazis am 2. Oktober 1992 eine "Außenübung" im Wald - sprich Wehrsport - betrieben hätte. Bei dieser Gelegenheit sei zur Sprache gekommen, dass Priem die Urnen von Soldatengräber nach Militaria wie Orden durchsuchen würde, dies sei "Grabschändung". Der Landesvorsitzende der FAP-Niedersachsen Thorsten Heise habe ihn am gleichen Abend daher im Jugendklub Auer zur Rede gestellt. Priem habe ihn deswegen zu Boden gestoßen und er sei getreten worden.

Für den Landesvorstand Berlin der Neonazipartei "Deutschen Alternative" (DA) publiziert Priem eine Gegendarstellung als "Information für den Kamerad Worch vorab".2 Er habe im Oktober 1992 mit dem österreicher VAPO-Gauleiter Günther Reinthaler und dazu "sehr viele DA-Leute" die "Discothek-Auer" besucht. Der verantwortlichen Redakteur der DA-Zeitung "Brandenburger Beobachter", Frank Mencke habe das "übliche Kneipentreiben" bezahlt. "Am Tische sitzend, kamen wie üblich viele Kameraden zum "Palaver"", der als "Urnenfetischist" betitelt Thorsten Heise habe ihn dabei vorgeworfen: "Du raubst Urnen auf Friedhöfen und bemächtigst dich der Goldzähne". An einer anschliessenden Prügelei habe der "Mob" auch noch die in der "ANTIFAtzke-Info aufgestellten Beschimpfungen übernommen".

Priem stellt seinem "Führer" in dem Schreiben die Frage ob es nur Dummheit oder Zersetzungstaktik sei, benennt als weitere Geschädigte einen Kameraden von "Wotans Volk", als Zeugen noch den Berliner NF-Funktionär Andreas Pohl und verweist auf 800,- DM Schaden an seinem PKW. Die Ostberliner Zeitschrift "telegraph" berichtete, dass der Klubleitung die Vorgänge bekannt gewesen seien. Immer wieder kam es, von diesem Klub ausgehend, zu Konflikten im Nachbarbezirk Friedrichshain. Aus diesen Gründen wurde er vollständig entglast. Dabei hätte sicher etwas mehr Rücksicht auf die unbeteiligten Besucher der Disco nichts geschadet. Die Klubleiterin Frau Dametzke lügt aber, wenn sie im Nachhinein behauptet, daß dabei Morgensterne eingesetzt wurden. Was damals nicht bekannt war, ist die Tatsache, daß genau zu dem Zeitpunkt, wo der Klub entglast wurde, die beiden Hauptverdächtigen Sven M. und Sandro Sch. provokativ zusammen mit anderen, teilweise ebenfalls Tatbeteiligten, durch den hinteren Teil des Trauermarsches liefen.

Die gesamte Clique um die Mörder von Silvio gehört zum »normalen« Publikum des Auer-Klubs. Damit ist festzustellen, daß das »normale« Publikum des Auer-Klubs zwar nicht sehr viel mit den Freitags-Neonazis zu tun hat, in der Endkonsequenz einige Personen davon aber kein bißchen ungefährlicher sind. Am Montag gab es dann nochmal zwei Demonstrationen in Berlin.

Es ist zu beobachten, daß den meisten nur noch eine Reaktion auf den steigenden Rassismus und Faschismus einfällt: Laß uns 'ne Demo machen! Die Wut und Trauer ist verständlich und sie auf die Straße zu tragen, dagegen kann auch nichts gesagt werden. Das darf aber nur ein Teil unserer Reaktion sein. Wir müssen uns fragen lassen, was wir vor und nach dem Mord gegen die zunehmenden neonazistischen Strukturen in dem Kiez getan haben? Was taten wir dagegen, daß im Auer-Klub und anderen bekannten rechten Treffpunkten die Jugendlichen ausnahmslos unter dem Einfluß bekannter neonazistischer Führungskader standen? Wenn ein Jugendklub als Neonazitreffpunkt bekannt ist, gibt es meistens nur eine Überlegung, zerstören, damit die Neonazis sich dort nicht mehr treffen können. Das mag in einigen Fällen richtig sein, auf jeden Fall muß dann aber eine »Aufbauarbeit« geleistet werden, damit in dem wiederhergestellten Klub nicht sofort die gleichen Zustände wie vorher wiedereinziehen.

Presse und Polizei

Die Presse reagierte nach dem Mord wie gewohnt, erst mal fast durchweg feindlich. Von der Polizei wurde versucht, den politischen Hintergrund der Tat auszublenden, was seinen Höhepunkt in der dritten Vernehmung des einen Verletzten hatte, als sie von ihm einen Spruch auf Tonband haben wollten, auf dem er sich von eventueller Gewalt auf dem Trauermarsch und sonstigen »gewaltätigen Aktionen« distanziert und aussagt, daß es keine Neonazis waren, die Silvio umgebracht haben.

Durch eine breite Pressearbeit von Silvios FreundInnen wurden die Falschmeldungen in der Presse in einigen Punkten berichtigt. Dann hatten sie aber gleich den nächsten Knüller, nachdem sich zwei Tage nach dem Mord ein »armer« Jugendlicher gestellt hatte, der »aus Angst davor, daß Unschuldige von Linken verprügelt werden«, angeblich »nicht mehr schlafen konnte«. In der Sondernummer der „Besetzer Zeitung“ (BZ) vom November 1992 berichten die FreundInnen und KollegInnen von Silvio:

Am Montag stellt sich einer der Faschos freiwillig bei der Polizei. Der Anruf erfolgt aus dern Faschotreffpunkt „Judith- Auer-Klub“ . Sven M. gab den Mord zu, konstruierte in seinen ersten Aussagen aber eine völlig unglaubwürdige Notwehrsituation. Diese Ansagen wurden von dem Leiter der 4. Mordkomission, Andreas Vogt, auf einer Pressekonferenz unkommentiert als die reine Wahrheit weitergegeben. Er behauptete sogar, daß die Aussagen mit dem Obduktionsbericht übereinstimmen. Laut dieser Lügen stammte das Mord-Messer von Silvio, der den Mörder auch noch zuvor mit einer Gaspistole am Kopf verletzt habe. Dieses Lügenkonstrukt hielt nicht mal 24 Stunden, hatte seinen Zweck aber schon völlig erreicht. Der Widerruf dieser Aussagen erschien ganz klein auf einer der hinteren Seiten der Presse, die öffentliche Meinung war in vielen Fällen schon umgeschlagen. Bis heute gibt es leider Leute, die der Meinung sind, daß eigentlich Silvio und seine Freundinnen die Schuld an dem Mord trifft. Sie hätten die Leute angeblich in der kurzen vorhergebenden Rangelei provoziert. Wegen dieser Sache und weil durchaus die Möglichkeit bestand, daß die Neonazis da oben noch rumstehen könnten, hätte »jeder vernünftige Mensch« den anderen Ausgang gewählt. Solche falschen Einschätzungen von der gewesenen Situation kommen u.a. durch die manipulierte Berichterstattung zustande. Einen Tag später wurde der zweite Hauptverdächtige Sandro Sch. verhaftet, der mit seinen Aussagen u.a. dazu beitrug, daß der erste seine Lügen widerrufen mußte. Beide bezeichneten sich als Hooligans, M. als »unpolitischer«, Sch. als »rechter«. Zu dem »unpolitischen Hooligan« können wir uns einige Ausführungen nicht verkneifen. Er hat in seiner Umgebung nie mit seiner Neonazi-Gesinnung hinterm Berg gehalten, hatte bekannte Verbindungen zur FAP, hat längere Zeit Kampfsport trainiert und war bei mindestens einem Überfall auf ein besetztes Haus dabei. Er machte sich ziemlich oft einen Spaß daraus, zusammen mit dem zweiten Hauptangeklagten sinnlos Schwächere zu verprügeln. Kurz nachdem sich diese beiden der Polizei gestellt hatten, waren auch die anderen Tatbeteiligten bekannt. Wir werden Silvio rächen, aber nicht in der von der Presse und den Politikern beschriebenen Art und Weise, daß wir jetzt als prügelnde Horden durch die Straßen ziehen. Wir werden Silvio rächen, indem wir jetzt erst recht nicht mehr wegschauen, indem wir uns nicht einschüchtern lassen, wie es von den Neonazis gewollt ist, indem wir immer wieder jedeN EinzelneN an ihre/ seine Mitverantwortung an dem steigenden Rassismus und Faschismus erinnern, indem wir effektive Selbstverteidigungsstrukuren auf- und ausbauen, indem wir unter uns zu einem anderen Umgehen miteinander finden, geprägt von Gleichstellung und gegenseitiger Achtung und indem wir über eine neue Gesellschaft diskutieren, in der wir selbstbestimmt leben können und Rassismus und Sexismus keinen Platz mehr hat."

  • 1Vgl. telegraph 12/1992,  Jolli Jumper: Ist der Judith-Auer-Club ein Nazi-Nest?
  • 2Nachtrag: Siehe auch: "Hass von Rechts" Teil 2, B. Ewald Althans, S. 125 ff, Juli 2015 (Issuu): Faksimile/Fax von Michael Dräger, S.02, Dezember 1992.