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Zwischen grenzenloser Solidarität und mörderischem Rassismus

Hilde Sanft
Einleitung

Tausende von Geflüchteten, die von vielen Menschen an Bahnhöfen in Städten in Ost- und Westdeutschland mit „Refugees Welcome“-Schildern und Essensspenden begrüßt werden und ausgebrannte und zerstörte Unterkünfte von Geflüchteten: Grenzenlose und grenzüberschreitende Solidarität und mörderischer und gut organisierter Rassismus bestimmten in diesem Sommer 2015 nicht alleine das mediale Bild der deutschen Gesellschaft, sondern ganz konkret das Leben von zehntausenden Menschen: von tau­senden Kindern, Frauen und Männern vor allem aus Syrien, Afghanistan, Irak und Eritrea, von Antifaschist_innen und Antirassist_innen, von tausenden ehrenamtlichen Flüchtlingsunterstützer_innen, von Medienmacher_innen, Politiker_innen und von einer entschlossenen Neonazibewegung mitsamt zehntausenden unorganisierten überzeugten Rassist_innen unterschiedlichster sozialer Herkunft.

Erstaufnahmelager für Flüchtlinge. In einem Industriegebiet im Stadtteil Dresden-Friedrichstadt wurde ein Zeltlager für 600 bis 700 Menschen errichtet. Bis zu 40 Personen leben auf engstem Raum in einem Zelt.

Auch wenn dieser Sommer zwischen Will­kommensfesten, Gegendemos zu Aufmärschen von Neonazis und ihren „Nein-zum-Heim“-Initiativen, zwischen nächtelangem Ausharren an Bahnhöfen und menschenunwürdigen Massenunterkünften für Geflüchtete, zwischen Zimmersuche für Geflüchtete und Recherchen zu organisierten Neonazistrukturen noch nicht vorbei ist: Ein kritischer Vergleich zwischen der aktuellen Situation und den frühen 1990er Jahren ist auch deshalb notwendig, weil mit dem Vergleich seit Beginn der PEGIDA-Bewegung im Sommer 2014 immer öfter auch die Frage nach den Konsequenzen aus den Fehlern und Analysen der unabhängigen Antifa-Bewegung der 1990er Jahre gestellt wird.

Fluchtursachen und Antiziganismus — offensichtliche Parallelen

Die Parallelen bei den Fluchtursachen von heute und damals sind unstrittig: Die Auflösung ganzer Staaten und Machtblöcke — sei es der Zerfall des staatskommunistischen Blocks ab 1989 und der Republik Jugoslawien, der Zerfall des Irak und Afghanistans, die „Arab Rebellion“ mit dem damit einhergehenden Zerfall von Libyen und Syrien und dem Aufstieg der mörderischen Bewegung des „Islamischen Staats“.

413.000 Geflüchtete hat das Bundesamt für Migration in den ersten acht Monaten des Jahres 2015 registriert — und damit mehr als doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum in 2014. Die mit Abstand meisten Geflüchteten — über 110.000 Menschen —kommen inzwischen aus Syrien, die zweitgrößte Gruppe sind 75.000 Menschen aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawien  (Koso­vo, Serbien, Mazedonien) und aus Alba­nien. Dazu kamen viele Geflüchtete aus den Herkunftsländern Irak, Afghanistan sowie Pakis­tan und Eritrea.1 Mit der Zahl der Geflüchte­ten ist auch die Quote der anerkannten Asyl­berechtigten auf rund 33 Prozent „gestiegen“ — während 2/3 aller Anträ­ge abgewiesen wurden.2 Insbesondere geflüchtete Roma aus den Staaten des ehema­ligen Jugoslawien haben keinerlei Chance, als Verfolgte in Deutschland anerkannt zu werden.3 Die Parallelen zwischen den Zahlen von 1992 sind offensichtlich: Vor 23 Jahren lag die Zahl der Asylanträge bei rund 440.000. Damals kamen 26,3 Prozent der Antragsteller_innen aus der im Zerfall begriffenen Republik Jugoslawien 23,7 Prozent kamen aus Rumänien, 7,2 Prozent aus Bulgarien, 6,5 Prozent aus der Türkei und ein weiteres Viertel der Anträge aus „sonstigen Ländern“.4

Der Vergleich macht vor allem deutlich, dass sich an der Verfolgungs- und katas­tro­phalen Lebens- und Diskriminierungssitua­tion insbesondere von Roma aus mittel- und südosteuropäischen Staaten in den vergangenen 23 Jahren nichts geändert hat. Ob in den in Auflösung begriffenen staatskommunistischen Ländern oder in den nunmehr neoliberalen post-Kriegsgesellschaften: An den Fluchtursachen — antiziganistische Gewalt, Pogrome, strukturelle Diskriminierung, auswegslose Armut und verweigerte Teilhabe — hat sich bis heute nichts geändert. Ebenso wenig wie am Antiziganismus der bundesdeutschen Politik und Gesellschaft: Zuletzt wurde dies durch die weitere Einschränkung des Asylrechts deutlich, seit September 2014 gelten Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als „sichere Herkunftsländer“. Der asylpolitische Antiziganismus korrespondiert mit dem gesellschaftlichen Hass gegen Roma: Im Jahr 2014 lehnte mehr als die Hälfte der Befragten in der „Mitte-Studie“ der Universität Leipzig Sinti und Roma als Nachbarn ab.5  Auch die medialen Bilder, mit denen Antiziganismus geschürt wird, haben sich seit den 1990er Jahren nicht verändert: Fotos bettelnder Menschen in deutschen Innenstädten mit den dazu passenden Schlagzeilen von „rumänischen Bettler- und Diebesbanden“ (1992) oder „Einwanderern ins deutsche Sozialhilfe-System“ (2013) bestäti­gen und schüren Vorurteile und Ablehnung.

Wie schnell Antiziganismus in Deutschland sieben Jahrzehnte nach dem Ende des NS-Völkermords an west- und osteuropäischen Sinti und Roma wieder in mörderische Gewalt umschlägt, zeigte schon das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im August 1992: Ohne die bundesweit verbreiteten Bilder von geflüchteten Roma aus Rumänien, die vor der überfüllten Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung (ZASt) des Landes Mecklenburg-Vorpommern in Rostock-Lichtenhagen unter freiem Himmel schlafen, essen und ihre Notdurft tatsächlich in den Hecken der Plattenbausiedlung verrichten mussten, wäre der Beginn des Pogroms am 22. August 1992 nicht denkbar gewesen. Weil die ZASt evakuiert und die Roma in ländlichere Heime gebracht wurden, griffen hunderte von Neo­nazis unter dem Beifall zahlreicher ZuschauerInnen dann das „Sonnenblumenhaus“ an, ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter_innen. Politischer und medialer Antiziganismus ist auch einer der Ausgangspunkte für die Pegida-Bewegung gewesen, der sich auf den September 2012 fixieren lässt, als der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) begann, Roma-Flüchtlinge aus Serbien und Montenegro verbal zu attackieren. Friedrich bediente sich der klassischen Ins­tru­mente  rassistischer Mobilmachungen: Aus einer kleinen Gruppe von knapp 7.000 Flüchtlingen im Jahr 2012 wurde eine „Flut von offensichtlich unbegründeten Anträgen“,  natürlich durfte auch der Verweis auf die knappen Ressourcen nicht fehlen; entsprechend hieß es in einem Brief Friedrichs an die EU Kommission, die Flüchtlinge würden „unsere ohnehin schon angespannten Aufnahmesysteme belasten“. Unverhohlen drohte der Bundesinnenminister schon damals mit Sanktionen und Rechtsbrüchen, wünschte sich ein 48-Stunden Asylschnellverfahren und kündigte gekürzte Bargeldleistungen für die Betroffenen im Asylverfahren an. Wenig später folgten rassistische Mobilisierungen gegen Flüchtlingsunterkünfte in Mecklenburg-Vorpommern und in Schneeberg (Sachsen) und die bekannte Berichterstattung über „Elendshäuser“ in Duis­burg und anderswo.

Inzwischen ist absehbar, dass die Unterscheidung der Bundesregierung zwischen erwünschten Geflüchteten aus Syrien und dem Irak einerseits und unerwünschten Roma andererseits, dazu führen wird, dass die Zahl der Abschiebungen von Roma noch weiter steigen wird — auch mit dem Verweis auf knappe Ressourcen. Umso notwendiger ist es, dass unabhängige Antifas und Antirassist_innen deutlich machen, dass antifaschistische Solidarität unteilbar ist und nicht von kapitalistischen Verwertungslogiken bestimmt sein darf.

Parallelen und Unterschiede: Politik und Medien

Untrennbar mit der ersten Welle rassistischer Gewalt seit 1990 verbunden ist die Mobilisierung der politisch Verantwortlichen gegen Flüchtlinge: Zwischen dem ersten Pogrom im wiedervereinigten Deutschland im August 1991 in Hoyerswerda (Sachsen), dem Pogrom im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen und der de facto Abschaffung von Artikel 16 des Grundgesetzes im Mai 1993 lag ein sich quasi selbst befeuernder und aufputschender politischer und medialer Dauerdiskurs, der sich nicht allein gegen Flüchtlinge richtete, sondern die deutsche Wiedervereinigung als Ausgrenzungsprozess inszenierte: „Kerndeutsche“ gegen Migrant_innen und Geflüchtete. Schon wenige Wochen nach dem Pogrom in Hoyerswerda hatte der damalige CDU-Generalsekretär Volker Rühe in einem Brief alle Kreisverbände dazu aufgefordert, „in den Gemeinde- und Stadträten, den Kreistagen und in den Länderparlamenten die Asylpolitik zum Thema zu machen“. Und parallel dazu drängte die CDU die damals oppositionelle SPD zur Zustimmung für eine Änderung des Artikels 16 GG.:  „Wenn sich die SPD beim Kanzlergespräch am 27. Dezember verweigert, ist jeder Asylant nach diesem Tag ein SPD-Asylant“ hatte Volker Rühe in der Süddeutschen Zeitung im September 1991 erklärt.6  

Wenige Wochen später schreibt die tageszeitung (taz) über eine Bundestagsdebatte zum Thema: Es hätte „um die hierzulande bedrohten Ausländer gehen sollen. Es ging um die Deutschen. Darum, wie man sie vor allzu vielen Fremden im eigenen Land bewahrt. Darum, wie man verhalten Verständnis dafür zeigt, daß ein Teil dieser Deutschen die Ausländer vertreiben will. So bezeichnete Innenminister Wolfgang Schäuble den Anlaß der Parlamentssitzung gleich zu Beginn als ‚doppelt unerfreulich‘. Unerfreulich sei die Gewalt gegen Ausländer, die er knapp mit wenigen Urteilen wie ‚Schande für unser Land‘  verurteilte. Ebenfalls ‚unerfreulich‘ nannte er es, womit er sich dann bis zum Schluß seiner Rede beschäftigte: Daß viele Ausländer versuchten, mittels des Asylrechts hier ein Bleiberecht zu bekommen und daß sie die geltenden Zuwanderungsbeschränkungen unterliefen. Wie gewöhnlich forderte Schäuble, den Asylartikel 16 des Grundgesetzes zu ändern. Selbst für ihn ungewöhnlich war die Schärfe, in der er dies einklagte. Er zog ‚bürgerkriegsähnliche Zustände‘  in Ausländerwohnheimen heran. Er drohte versteckt mit noch schlimmeren Zuständen: Nur wenn die Sozialdemokraten sich ‚gesprächsbereit‘  für eine Änderung des Asylartikels zeigten, ‚bleibt die Bundesrepublik ein ausländerfreundliches Land‘. Mittelbar machte der Innenminister das geltende Asylrecht für die Übergriffe verantwortlich: Diese hätten, so Schäuble, nichts mit Ausländerfeindlichkeit zu tun. Er habe seit Jahren davor gewarnt, daß sich wegen der Asylrechtslage das Verhältnis zwischen Deutschen und Ausländern verschlechtere.“7 Auf dem Höhepunkt der medial-politischen Allianz titelte die BILD-Zeitung am 23. Januar 1993: „Fast jede Minu­te ein neuer Asylant. Die Flut steigt — wann sinkt das Boot?“ Bürgerliche Magazine wie „Der Spiegel“ hatten schon am 9. September 1991 mit einem Bild eines schwarz-rot-gold angemalten Kahns voller Menschen unter dem Titel „Flüchtlinge, Aussiedler, Asylanten: Ansturm der Armen“ den rassistischen Schlägern sekundiert. In der Woche nach dem Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim in Hünxe (NRW), den zwei libanesische Mädchen am 3. Oktober 1991 nur knapp überlebten, beschrieb ein „Spiegel“-Reporter den vierjährigen Bruder der beiden schwerverletzten Mädchen als „Monster mit den glühenden Augen“ und „Nachwuchs-Asylanten“.8 Andererseits kommentierten zumeist westdeutsche Journalist_innen den nackten rassistischen Hass in Ostdeutschland als Zivilisationsbruch.

Proteste der Geflüchteten verändern  Medien und Gesellschaft

Tatsächlich liegen die zentralen Unterschiede zwischen den frühen 1990er Jahren und heute in der medialen Berichterstattung, einer veränderten Gesellschaft und einer veränderten CDU: Angela Merkel ist nicht Helmut Kohl und die CDU/CSU von heute nicht die CDU/CSU der 1990er Jahre. Schon mit der Entscheidung zum Atomausstieg nach dem GAU in Fukushima hat Angela Merkel gezeigt, dass sie scheinbar mühelos bei entsprechender gesellschaftlicher und medialer Mehrheitslage die Forderungen, für die soziale Bewegungen Jahrzehnte gekämpft haben, von einem Tag auf den nächsten umsetzen kann — und dass der Teufel dann im Detail steckt. Das hat die Bundeskanzlerin mit dem staatlichen Trauerakt für die Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) ebenso gezeigt wie auch mit ihrem Besuch bei den Geflüchteten in Heidenau und der Entscheidung, Dublin II vorübergehend für Syrien-Flüchtlinge auszusetzen und zehntausende in Ungarn festgesetzte Geflüchtete in Deutschland aufzunehmen. Und wenn die Bild-Zeitung „refugees welcome“ twittert und mit dem Bild des ertrunkenen kurdischen Jungen Alan Kurdi aufmacht, dann ist das einerseits heuchlerisch und andererseits hat es eben auch eine wichtige Signalwirkung: an Neonazis und rassistische Gelegenheitstäter_innen, dass sie sich — zumindest für ein paar Wochen — nicht als Vollstrecker eines breiten gesellschaftlichen rassistischen Kon­senses sehen können, an die Geflüchteten, ihre vor Ort allzu oft heftig angefeindeten und isolierten Unterstützer_innen und an die politisch Verantwortlichen in der Bun­des­regierung und den Ländern. In der aktuellen medialen Berichterstattung spiegelt sich aber auch wieder, dass es den Protesten der Geflüchteten in den vergangenen drei Jahren — sei es der Marsch und die Hungerstreikaktionen der Geflüchteten gegen Residenzpflicht, das Sammellager-System und das herrschende Asylregime als Ganzes beispielsweise am Oranienplatz und an der Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin und in München — gelungen ist, mit ihren Forderungen zumindest Teile der Gesellschaft und der medialen Öffentlichkeit zu erreichen. Hinzu kommt sicherlich auch, dass eine Reihe von Medienmacher_innen in verantwortlichen Positionen von heute mehrheitlich die Pogrome der 1990er Jahre bewusst miterlebt haben und dass die mediale Deutungshoheit schwindet, wenn sich jede und jeder selbst über Facebook, Twitter und das Internet über den Krieg in Syrien oder im Irak – und damit über die Fluchtursachen — informieren kann.

Dennoch: Gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen der 1990er Jahre wissen wir alle, wie schnell die CDU/CSU und SPD die rassistische Karte zücken werden —unterstützt und befeuert von Boulevard- und anderen Medien —, wenn der Widerstand gegen die Aufnahme von Geflüchteten in den Kommunen weiter wächst und der Kampf um die Ressourcen sich verschärft: Der Widerstand innerhalb der CDU/CSU gegen die Entscheidung Merkels für die Aufnahme der „Ungarn-Flüchtlinge“ und die Aussetzung des Dublin II-Abkommens für syrische Geflüchtete ist ebenso wie die angekündigte erneute Grundgesetzänderung und der rassistische Schulterschluss der sächsischen CDU — unter stillschweigendem Einverständnis weiter Teile der sächsischen SPD, Linkspartei und Grünen — mit den organisierten Rassisten von PEGIDA9  — nur ein Vorgeschmack auf einen möglicherweise heißen Herbst 2015. Entscheidend wird dann sein, ob die gesellschaftliche Mitte — deren praktische Solidarität mit Geflüchteten derzeit eine ganz reale Veränderung bedeutet — die konkreten Erfahrungen mit der mörderischen Asylpolitik und den Begegnungen mit den Geflüchteten Teil einer linken Protest- und Bürgerbewegung für eine offene Gesellschaft und gegen das herrschende Asylregime werden wird. Oder ob die rassistische und nationalistische Karte am Ende doch wieder sticht.

Neonazistische Gewalt und antifaschistische Reaktion: Den Widerstand gemeinsam mit den Geflüchteten organisieren

Ende des Jahres 1991 registrierte das Bun­deskriminalamt 1.483 rechter Gewalttaten, 1992 stieg die Zahl auf 2.584. Angesichts der massiven Dunkelfelder bei rechten Gewalttaten in den frühen 1990er Jahren muss man davon ausgehen, dass diese Zahlen nur einen winzigen Ausschnitt der Realität widerspiegeln. Die aktuelle Welle neonazistischer Gewalt — täglich mehr als vier bis fünf rassistische Gewalttaten, 300 Angriffe und Dutzende Brandanschläge gegen geplante und bewohnte Flüchtlingsunterkünfte seit Jahresbeginn — sind auch das Ergebnis der jahrzehntelangen Verharmlosung neonazistischer Gewalt und Strukturen durch Strafverfolgungsbehörden und Politik. Die Kultur der Straflosigkeit der 1990er Jahre für die TäterInnen und den applaudierenden Mob von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Eisenhüttenstadt oder Magdeburg ist eine der zentralen Ursachen für das Selbstbewusstsein, mit dem die „Generation Terror“ der 1990er Jahre Netzwerke wie den „Nationalsozialistischen Untergrund“ aufbaute und rechtsextreme Parallelwelten vor Ort verankern konnte. In der Sächsischen Schweiz, in Heidenau, Freital oder Meißen zeigt sich, was passiert, wenn diese Parallelwelten über ein Vierteljahrhundert unangetastet bleiben. Und noch etwas eint die TäterInnen der „Generation Terror“, des NSU-Netzwerks und die BrandstifterInnen und rassistischen GelegenheitstäterInnen von heute: Ein mörderischer Rassismus und die Vorstellung, die Idee der „White Supremacy“ mit aller Entschlossenheit durchzusetzen.

Dass Heidenau nicht zum Rostock-Lichtenhagen wurde, liegt auch daran, dass Antifaschist_innen vor Ort präsenter waren und den Hass der RassistInnen — und der Polizei — auf sich zogen. Ohne Antifa und die (passive) Polizei wäre ein Pogrom wie Rostock-Lichtenhagen hier möglich gewesen.  Aber eine Wiederholung von Rostock-Lichtenhagen ist noch nicht vom Tisch. Denn trotz Facebook und Twitter, die eine virtuelle Präsenz einer antirassistischen und antifaschistischen Zivilgesellschaft simulieren, die aber oft in der realen Welt nicht aufrecht erhalten werden kann, muss das Arbeitsmotto der kommenden Monate immer noch heißen: Nur wenn wir vor Ort sind, nur wenn wir den Widerstand gegen Neonazis ganz real organisieren, nur wenn wir — und notfalls auch alleine und ganze Nächte lang — uns vor die Unterkünfte, die Turnhallen und die einzelnen angegriffenen Flüchtlinge stellen — können wir Schlimmeres verhindern. Dazu gehört — auch als reale Erfahrung aus den 1990er Jahren: Mit den Ansprüchen, dass wir alle unsere Autos sicher parken können, kein Risiko auf Verletzungen besteht und eine Abfahrt ohne Festnahme gesichert ist, wird kein Pogrom zu verhindern sein. Und auch wenn Anfang der 1990er Jahre rechtsfreie Räume vor allem in der ehemaligen DDR völlig normal als Ausgangslage für antifaschistische „Feuerwehreinsätze“ mitgedacht wurden, müssen die zwei Nächte rassistischer Krawalle in Heidenau OHNE einen effektiven Polizeieinsatz ein Weckruf und eine Erinnerung für alle sein, die Rostock-Lichtenhagen vergessen oder nicht miterlebt haben: Ein Vertrauen darin, dass die Polizei die Flüchtlinge schützen wird ist unangebracht — deren Einsatz oder Abzug wird letztendlich politisch entschieden.

Und nur wenn wir weiter beobachten und recherchieren und unsere Rechercheergebnisse öffentlich machen, wird deutlich, wie und wo die Neonazistrukturen, wie z.B. der „III. Weg“ die Angriffe, Brandanschläge und rassistischen Mobilisierungen steuern und beeinflussen, wo Neonazis — was eigentlich niemanden überraschen sollte — als Security die Unterkünfte schützen oder als Bauarbeiter die Unterkünfte sanieren, die die Kameraden dann anzünden oder anderweitig unbrauchbar machen — oder sogar als Feuerwehrmann das Feuer legen und später  selber löschen.

Und eines ist auch klar: Das „wir“ der unabhängigen Antifastrukturen von heute unterscheidet sich natürlich sehr deutlich vom „wir“ der autonomen Antifabewegung der 1990er Jahre, die als Teil einer viel größeren, selbstverständlich militanten autonomen Bewegung ganz andere Spielräume und Aktionsmöglichkeiten hatte — und dennoch ab 1990 nur noch Abwehrkämpfe führte. Apropos Militanz: Nur dort, wo durch militante Antifa-Aktionen den Neonazis klare Grenzen gezeigt wurden und werden, wird es auch in Zukunft Freiräume geben — für alle, die anders sind und anders sein wollen.

Dazu gehört aber auch, dass wir die Geflüchteten als politische Subjekte ernst nehmen: Ihre Entschlossenheit und ihre Strukturen haben in diesem Sommer das europäische Grenzregime und die Festung Europa zum Wanken gebracht. Wenn tausende Geflüchtete jetzt über Monate unter menschenunwürdigen Bedingungen in Baumärkten, Turnhallen und Zeltstädten leben müssen, wird es auch an uns liegen, ob ihre zu erwartenden neuerlichen Proteste erfolgreich sein werden. Und erst wenn die Flucht­ursachen angegangen und das europäische Asylregime komplett aus den Angeln gehoben wird, kann es hier für Geflüchtete menschenwürdige Bedingungen und gleich­berechtigte Teilhabe geben.