Mit Kampfsporttraining zum § 129 StGB
Einar Aufurth und Lukas Theune (Gastbeitrag)Die schriftlichen Urteilsgründe im Antifa-Ost Verfahren (Teil 2).
Am 31. Mai 2023 wurden vier Antifaschist*innen vom Oberlandesgericht (OLG) Dresden zu teils langjährigen Haftstrafen verurteilt. Neben dem Vorwurf, an konkreten Angriffen auf Neonazis beteiligt gewesen zu sein, wurden zwei der Betroffenen auch wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung im Sinne § 129 Strafgesetzbuch (StGB) verurteilt, die beiden weiteren Betroffenen kassierten Verurteilungen wegen der Unterstützung einer solchen Vereinigung.
Zur Ausweitung der Strafbarkeit nach § 129 StGB und zur ersten Einordnung des Urteils hatten wir bereits im AIB Nr. 140 unter dem Titel „§ 129 StGB – so kennen wir das noch nicht“ geschrieben.1 Seit Dezember 2023 liegen nun die schriftlichen Urteilsgründe vor.
Rechtskräftig ist das Urteil allerdings noch nicht, für alle vier Betroffenen muss der Bundesgerichtshof noch über die Revisionen entscheiden. Die schriftlichen Urteilsgründe bieten für uns aber bereits jetzt Anlass für eine weitere Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit militantes antifaschistisches Engagement auch über die Aburteilung einzelner Straftaten hinaus mithilfe des Konstrukts des § 129 StGB kriminalisiert wird.
Für uns stellen sich dabei mehrere Fragen: Droht Antifaschist*innen, die Neonazis körperlich angreifen, jetzt immer auch ein Verfahren vor den Staatsschutzsenaten der OLG?2 Wird Personen, die sich an körperlichen Angriffen auf Neonazis beteiligen, wenn die Angriffe ein gewisses Maß an Planung erfordern, jetzt immer auch der Vorwurf des § 129 StGB gemacht? Und wie sieht es mit anderen Formen antifaschistischen Engagements aus? Stellen Gruppen, denen zwar keine konkreten Angriffe vorgeworfen werden, die sich aber in einem antifaschistischen Kontext etwa an der Organisation von Kampfsporttrainings beteiligen oder an solchen teilnehmen oder Strukturen, die Recherchen zu Neonazis betreiben, nach Auffassung der Justiz jetzt immer auch eine kriminelle Vereinigung dar?
Nach dem Gesetz handelt es sich bei einer solchen Vereinigung um „einen auf längere Dauer angelegten, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängigen organisierten Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses“, deren Zweck es ist – nicht nur ganz unerhebliche – Straftaten zu begehen.3
Nach Ansicht der Bundesanwaltschaft (BAW), so die Anklageschrift, soll das Bestehen eines solchen organisierten Zusammenschlusses bereits durch die gemeinschaftliche und arbeitsteilige Begehung der einzelnen vorgeworfenen Körperverletzungen belegt sein. Die personellen Überschneidungen zwischen den Taten und die zur Durchführung erforderliche vorherigen Ausspähung der Opfer und längerfristige Planung würden, so die BAW, das Bestehen einer kriminellen Vereinigung beweisen. Darüber hinaus lagen mit der Anklageerhebung im Grunde keine weiteren Beweise für das Bestehen einer solchen Vereinigung vor.
Ob das Gericht auch bei dieser Beweislage wegen § 129 StGB verurteilt hätte, darüber können wir nur spekulieren. Jedenfalls hat das OLG Dresden die Anklage zugelassen und das Verfahren eröffnet und damit aufgrund der damaligen Beweislage eine Verurteilung für wahrscheinlicher gehalten als einen Freispruch.
Im Laufe des Verfahrens hat sich die Beweislage, das ist bekannt, dann aber geändert. Der zunächst Mitbeschuldigte und dann in einem abgetrennten Verfahren gesondert Verfolgte J. Domhöver hat sich dem LKA Sachsen im Mai 2022 als Kronzeuge angedient und hat in der Folge im Verfahren vor dem OLG Dresden umfangreiche Angaben gemacht. Dabei stand er insoweit unter Druck, als dass er nur dann im Zeugenschutzprogramm des LKA verbleiben konnte, wenn seine Aussage durch die BAW als „unverzichtbar“ bewertet wird. Und auch eine ernsthafte Strafmilderung in dem gegen ihn geführten Verfahren konnte er nur dann erwarten, wenn er „Aufklärungshilfe“ leistet.4 Bereits aus diesen Gründen sind seine Aussagen mit äußerster Vorsicht zu genießen. Außerdem zeigte sich in den Aussagen beim LKA und vor Gericht, dass Domhöver vor allem bei den den Vorwurf des § 129 betreffenden Themenkomplexen anstelle von konkreten Tatsachen eher allgemeines „Szenewissen“ referierte und seine Angaben vage und unkonkret und damit nicht überprüfbar blieben.
Dennoch hat das OLG Dresden die Angaben des Kronzeugen für überzeugend erachtet und hat – vor allem was den Vorwurf der kriminellen Vereinigung angeht – seine Entscheidung ganz wesentlich auf dessen Angaben gestützt. Die schriftlichen Urteilsgründe bestätigen insoweit, was sich bereits in der mündlichen Urteilsbegründung abgezeichnet hat.
So beginnt (fast) jeder Abschnitt, der sich mit dem Vorwurf der kriminellen Vereinigung beschäftigt, mit Worten wie: „die Feststellungen zu […] fußen maßgeblich auf den […] plausiblen Aussagen des Zeugen Domhöver.“ Zahlreiche Leerstellen, die im Konstrukt der kriminellen Vereinigung bei Anklageerhebung vorhanden waren, werden also mit den zweifelhaften Angaben des Kronzeugen gefüllt. Der zentrale Punkt in der Beweiswürdigung des OLG sind dabei die sogenannten „Szenario-Trainings“. Domhöver hatte ausgesagt, an Kampfsporttrainings teilgenommen zu haben, an denen u.a. auch zwei der Angeklagten beteiligt gewesen seien. Es sei bei den Trainings um die Einübung von konkreten Szenarien für Angriffe auf Neonazis gegangen. So heißt es im Urteil:
„Die Feststellung, dass sich spätestens Ende 2017/Anfang 2018 eine dem Gesamtbild der Taten entsprechende Vereinigung mit den festgestellten Zielen gebildet hatte, (…), beruht auf den Angaben des Zeugen Domhöver zu den „Szenario-Trainings“.“ (Urteil, S. 101)
Daneben führt das Gericht aber auch eine gemeinsame antifaschistische Überzeugung, das Beachten sogenannter Sicherheitsstandards etwa bei der Frage von Spurenverursachung durch DNA oder im Rahmen von Kommunikation zwischen den Beteiligten, das Vorhalten eines sogenannten Tatmitteldepots oder das Führen von Recherchedateien zu Neonazis als Beweise für das Vorliegen einer kriminellen Vereinigung aus.
Dabei wertet das Gericht unter anderem auch Erkenntnisse über mehr oder weniger enge Bekanntschaft- und Vertrauensverhältnisse zwischen den Beteiligten als belastende Indizien, was den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung betrifft. Auch in diesen Punkten stützt sich das Urteil zwar nicht nur, aber doch ganz erheblich auf die Angaben von Domhöver:
„Die Feststellungen zu der namenlos gebliebenen Vereinigung um Johann G(…) und die Angeklagte E(…) beruhen auf einer Gesamtwürdigung der Beweisergebnisse zu den einzelnen, der Vereinigung zur Last gelegten Straftaten sowie insbesondere der Aussagen des Zeugen Domhöver, der Ergebnisse der zahlreich durchgeführten Durchsuchungen und der Auswertung dabei sichergestellter Datenträger und Kommunikationsmittel, ganz besonders einiger sichergestellter Mobiltelefone.“ (Urteil, S. 64f.)
Neben dem Vorwurf der Teilnahme an den sogenannten Szenario-Trainings basiert das Urteil hinsichtlich des Vorwurfs des § 129 StGB aber auch immer auf der Beteiligung an den einzelnen Angriffen:
„Die Feststellungen zur Zugehörigkeit von (…) zu der Vereinigung beruhen ebenfalls auf einer Gesamtwürdigung insbesondere seiner Teilnahme an Aktionen der Vereinigung, also dem Angriff auf Leon Ringl und seine Begleiter am 14.12.2019 sowie dem ersten Anlauf zu einem Angriff auf das „Bull’s Eye“ am 27.09.2019 und an den „Szenario-Trainings“, die nach den Angaben des Zeugen Domhöver zur Überzeugung des Senats spätestens im ersten Quartal 2018 begann.“ (Urteil, S. 113)
Eine Anklage oder gar eine Verurteilung alleine wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, ohne dass sich der jeweiligen Person aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden auch die Beteiligung an einer Einzeltat (wie hier ein konkreter Angriff auf Neonazis) nachweisen lässt, erscheint damit auch nach der neuen Gesetzeslage äußerst unwahrscheinlich.
Außerdem ist festzuhalten, dass das Gericht zwischen Mitgliedschaft und Unterstützung einer kriminellen Vereinigung im Urteil wesentlich danach differenziert, ob sich aus Sicht des Gerichts eine Teilnahme an den sogenannten Szenario-Trainings nachweisen lässt oder nicht:
„Auch ist die - bei Domhöver gegebene - Teilnahme an den „Szenario-Trainings“ der Vereinigung nicht konstitutiv für die Mitgliedschaft in ihr. Sie stellt aber bei zugleich wiederholter Teilnahme an Vereinigungsangriffen ein gewichtiges Indiz für eine Mitgliedschaft dar, insbesondere in Abgrenzung zu einem der Vereinigung vertrauenswürdig erscheinenden und wiederholt mit ihr „zusammenarbeitenden“, aber ihr dennoch nicht zugehörenden Mitstreiter.“ (Urteil, S. 118)
Insgesamt zeigt sich in den schriftlichen Urteilsgründen recht deutlich, was auch niemanden verwundern dürfte: Je mehr Informationen der politischen Strafjustiz über politische Aktionen und Zusammenhänge zur Verfügung stehen, desto leichter fällt es ihr, Verurteilungen juristisch zu begründen. Das gilt nicht nur, aber ganz besonders beim Vorwurf des § 129 StGB. Denn die Strafbarkeit ist hier weit vorverlagert, was zur Folge hat, dass auch an sich völlig legale Handlungen wie Kampfsporttrainings je nach Kontext und Einordnung als Beweise für das Bestehen einer kriminellen Vereinigung gewertet werden können, oder mit den Worten Heinrich Hannovers: „Handlungen unterschiedlichsten Charakters erhalten ihre strafrechtliche Relevanz dadurch, daß sie auf den Hintergrund einer kriminalisierten [Vereinigung] projiziert werden.“5
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https://antifainfoblatt.de/aib140/ss-129-stgb-so-kennen-wir-das-noch-ni…
- 2
In Verfahren mit dem Vorwurf des § 129 StGB sind in erster Instanz entweder die Landgerichte oder (wenn die Bundesanwaltschaft wie im Falle des Antifa-Ost Verfahrens eine besondere Bedeutung des Falles sieht) die Oberlandesgerichte zuständig, wobei an den Gerichten jeweils spezielle Staatsschutzkammern (Landgericht) bzw. Staatsschutzsenate (OLG) als politische Sondergerichte eingerichtet sind.
- 3
Vgl. den Wortlaut der Vorschrift: https://dejure.org/gesetze/StGB/129.html
- 4
Vgl. § 46b StGB, https://dejure.org/gesetze/StGB/46b.html - so kam es auch. Das Landgericht Meiningen verurteilte den bereits unter laufender, einschlägiger Bewährung stehenden Domhöver zu einer weiteren Bewährungsstrafe.
- 5
Heinrich Hannover: Abschaffung der Verteidigung im politischen Strafprozeß, in: Demokratie und Recht 1979, Seite 366.