Skip to main content

Budapest-Komplex: Lieferdienste für das Regime

Rechtsanwalt Sven Richwin (Gastbeitrag)
Einleitung

Rechtsanwalt Sven Richwin berichtet in diesem Artikel über den Stand im Budapest-Komplex, insbesondere zum Stand der Auslieferungsverfahren nach Ungarn, mit denen die Beschuldigten im Budapest-Verfahren konfrontiert sind.

Budapest Soli

„Die Verhältnismäßigkeitsprüfung spricht gegen die Vollstreckung des hier zu prüfenden europäischen Haftbefehls. Aus diesen Gründen lehnt das Gericht das Ersuchen um Übergabe Gabriele M. an Ungarn ab und (…) ordnet seine sofortige Freilassung an.“
So lautet das Ergebnis einer 14seitigen Abrechnung des Mailänder Berufungs­gerichts mit dem ungarischen Justizsystem. Mit der Entscheidung der fünften Strafkammer Ende März 2024 endete vorerst die Bedrohungslage für Gabriele, der sich seit Ende November in Auslieferungshaft in Italien befand.

Für andere im Budapest-Komplex beschuldigte Personen sind die Aussichten derzeit wenig rosig, die Gefahr in den Kerkern Ungarns zu verschwinden real. Ausgangspunkt sind Ermittlungen zu Angriffen auf Rechtsextreme am Rande des „Tags der Ehre“ in Budapest im Jahre 2023.

In Finnland wurde Anfang Februar 2024 A.R., ein mitbeschuldigter albanischer Staatsangehöriger, festgenommen, dem auf Antrag Ungarns eine Auslieferung droht. Hier kommt erschwerend hinzu, dass die Regelungen in Auslieferungsverfahren zentral die menschenwürdige Behandlung vor allem eigener Staatsbürger*innen im Blick haben. 

In Deutschland befindet sich Maja nunmehr seit Mitte Dezember 2023 in Untersuchungshaft in Dresden. Die ebenfalls beschuldigte Hanna wurde Anfang Mai 2024 in Nürnberg festgenommen und befindet sich ebenfalls in Untersuchungshaft. Ein Auslieferungsantrag Ungarns ist zu erwarten.1 Nach mindestens neun weiteren Personen wird in diesem Zusammenhang derzeit noch gefahndet.

In Ungarn selbst befindet sich derzeit noch Tobi in Haft, nachdem er im ersten Prozesstermin in Budapest Ende Januar 2024 pauschal die Vorwürfe hinsichtlich der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung eingeräumt hatte und damit in der Sache als verurteilt gilt. Im Streit war hier noch die Länge der Haftstrafe. Ende Mai 2024 wurde die Strafhöhe in zweiter Instanz auf 22 Monate gesenkt, wovon Tobi bereits mehr als zwei Drittel abgesessen hat.

Der Mitbeschuldigten Ilaria wurden wohl auch aufgrund des öffentlichen Drucks dagegen Anfang Mai durch ein Berufungsgericht Hafterleichterungen gewährt. Nach 15 Monaten in Untersuchungshaft unter desaströsen Bedingungen wurde sie in einen Hausarrest in Budapest überstellt. In diesem muss sie eine elektronische Fußfessel tragen. Ilaria kandidiert derzeit für die Partei Sinistra Italia für die Europawahl.2

Der Haftbefehl gegen die Mitangeklagte Anna aus Deutschland wurde Mitte Mai 2024 in der Hauptverhandlung aufgehoben, das Verfahren läuft weiter.

Die Verhandlungen wurden mit großen zeitlichen Abständen angesetzt, mit einem Urteil ist Ende November 2024 zu rechnen. Das Gesamtverfahren ist damit geprägt von einer Ungleichzeitigkeit der jeweiligen Verfahrensstände als auch sehr unterschiedlicher juristischer Beurteilungen der Justizbehörden.

In Deutschland laufen dabei jeweils zwei Verfahren parallel. Aufgrund der internationalen Haftbefehle sind und werden jeweils Auslieferungsverfahren bei den Oberlandesgerichten anhängig, in deren Bezirk die Festnahme erfolgt, bei Maja etwa das Kammergericht in Berlin. Parallel führt Deutschland selbst Verfahren gegen die Beschuldigten. Diese hat Mitte März die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe übernommen, maßgebliches Gericht in Haftsachen ist somit der BGH in Karlsruhe.

Während in Italien die rechtsstaatlichen Missstände in Ungarn im Fokus stehen, versucht die Bundesanwaltschaft in Deutschland den Druck auf die Beschuldigten zu erhöhen, um diese zu Aussagen zu bewegen. Nachdem die Bundesanwaltschaft das Verfahren von der Generalstaatsanwaltschaft Dresden an sich gezogen hatte, versuchte sie Ende März 2024 nicht nur den Haftbefehl in eigener Zuständigkeit zu übernehmen, sondern diesen auch inhaltlich zu erweitern. Neben dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, sollte als Haftgrund auch der Vorwurf des versuchten Mordes erhoben werden. Dem folgte die zuständige Richterin beim BGH jedoch nicht. Zwar sah sie durchaus den dringenden Tatverdacht hinsichtlich einer kriminellen Vereinigung als gegeben, diese sei jedoch nicht darauf gerichtet gewesen, den Tod von Menschen herbeizuführen.

Im Gegensatz zu Italien, dass aufge­schreckt, durch die Bilder einer im Gerichts­saal in Ketten „wie ein Hund“ vorgeführten Italienerin, medienträchtig Vorwürfe gegen die ungarische Justiz erhob, läuft die Zusammenarbeit zwischen ungarischen und deutschen Ermittlungsbehörden geräuschlos und effizient. In den Vorgängen finden sich dabei regelmäßig nur die Ergebnisauswertungen der ungarischen Behörden, wie und unter welchen Umständen diese Zustande kamen, bleibt verborgen.

Die deutschen Behörden versuchen sogar, sich das System der Einschüchterung in ungarischen Haftanstalten im eigenen Interesse zunutze zu machen: Das Angebot von gesuchten Personen, sich zu stellen, wurde seitens der zuvor zuständigen Generalstaatsanwaltschaft Dresden mit dem Verweis begegnet, dazu müssten schon Geständnisse erfolgen. Unschuldsvermutung und prozessuale Rechte scheinen auch in Deutschland in diesem Verfahren längst von dem Einschüchterungssystem ungarischer Art überlagert zu werden. 

Der Generalbundesanwalt stellt sich derzeit etwa einer Auslieferung von Maja nicht entgegen. Richtigerweise verwiesen am 17. Mai 2024 mehrere Vereinigungen von Anwält*innen, darunter der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein und die Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen, mit einer öffentlichen Stellungnahme zur drohenden Auslieferung von Maja darauf, dass die Aussagefreiheit zu den zentralen Beschuldigtenrechten gehört. Die drohende Auslieferung nach Ungarn dürfe nicht als Mittel einer Aussageerpressung genutzt werden.

Bei Maja kommt hinzu, dass sich Maja als non-binäre Person definiert, und somit qua Existenz gleich mehrere Feinbilder der ungarischen Politik erfüllt. Sogar das Berliner Kammergericht musste im Beschluss vom 1. März 2024 feststellen, dass „die Politik der aktuellen ungarischen Regierung als gender-, homo- und transfeindlich bezeichnet werden muss und früher in Ungarn erreichte Maßnahmen zur Gleichbehandlung von Homosexuellen und Transpersonen in diskriminierender Weise wieder abgebaut wurden. Die Politik der Ungarischen Regierung folgt damit dem Muster auch anderer populistischer Regime, durch die Stigmatisierung von homosexuellen und Transpersonen ein innergesellschaftliches Feindbild zu schaffen und so die Geschlossenheit ihrer Anhänger zu stärken.“

Zwar genderte das Kammergericht seinen Beschluss, die Auslieferungshaft wurde jedoch trotzdem angeordnet. Eine endgültige Entscheidung zur Vollziehung der Auslieferung stand bei Erstellung dieses Artikels noch aus.3

  • 1

    Nachtrag: In den frühen Morgenstunden des 28. Juni 2024 vollzogen deutsche Behörden die Überstellung nach Ungarn. Damit schnitten sie die nicht erschöpften Rechtsschutzmöglichkeiten von Maja ab. Der am Morgen über Majas Anwälte gestellte Antrag an das Bundesverfassungsgericht wurde noch am selben Vormittag entschieden: Das Bundesverfassungsgericht untersagte eine Überstellung an Ungarn. Die deutschen Behörden hatten zu diesem Zeitpunkt aber schon rechtswidrig Tatsachen geschaffen.

  • 2

    Nachtrag: Da sie bei der Europawahl erfolgreich kandidierte und als Mitglied des Europäischen Parlaments Immunität genießt, musste die Justizbehörde in Budapest ihrer Freilassung zustimmen.

  • 3

    Nachtrag: Am 28. Juni 2024 erfolgte die Überstellung nach Ungarn. Siehe Fußnote 1.