"Deutsche Jugend Voran"?
Antifaschistischer Monitor BerlinSeit Sommer 2024 treten immer mehr Gruppen junger Neonazis offensiv auf. Sie haben sich auf social-media-Plattformen vernetzt und tragen den virtuellen Hass auf die Straßen. Sie sind größtenteils parteilich ungebunden und fallen durch ihre explizite Gewaltbereitschaft auf. Sie waren der Motor der monatelangen Proteste gegen CSD-Demonstrationen bundesweit. Im Zentrum des Artikels stehen die Berliner Netzwerke um „Deutsche Jugend Voran“ und „Jung und Stark“.

Julian Milz mit Megaphon und Nick Thomas Christopher W. bei einer DJV-Stördemonstration gegen einen CSD in Oranienburg (Brandenburg).
Am 27. Juli 2024 versuchten rund drei Dutzend Neonazis den „Christopher Street Day“ (CSD) in Berlin anzugreifen. Die Polizei setzte sie in der Nähe der Strecke der Parade fest. Laut Polizeiangaben war der Großteil unter 21 Jahre alt, zwei sogar jünger als vierzehn. Politisch in Erscheinung getreten war von ihnen zuvor kaum jemand. Die Neonazis waren aus unterschiedlichen Bundesländern angereist. Initiiert wurde die Aktion maßgeblich vom Netzwerk „Deutsche Jugend Voran“ (DJV) aus Berlin und Brandenburg. Der Name dieser neuen Gruppierung orientiert sich an einem weit verbreiteten Slogan in der deutschen Neonaziszene, der auch vom „Der III. Weg“ verwendet wird.
Vor dem Angriffsversuch war DJV hauptsächlich ein Internetphänomen. Mit einer fast ausschließlich auf Social Media fokussierten Strategie richtet sich die Gruppierung an rechtsaffine Jugendliche und junge Neonazis.
Virtuelle Neonazi-Netzwerke
Die gleichnamigen Kanäle auf Plattformen wie Instagram, Telegram und TikTok fungierten als virtuelle Sammelbecken, wo sich ein aggressiver Patriotismus und eine offene Queerfeindlichkeit artikulieren konnten. Darüber hinaus war kaum ein konsistentes politisches Programm zu erkennen. Damit stellen solche Social-Media-Gruppen im Gegensatz zu Parteijugenden niedrigschwellige Angebote in Form neonazistischer Erlebniswelten dar und bieten vielfache Vernetzungsmöglichkeiten. Der erste wahrnehmbare Schritt von DJV aus dem virtuellen Raum heraus erfolgte im Juni 2024. Über eine Telegram-Gruppe wurde zu einem Treffen eingeladen, dem sich rund 30 Neonazis anschlossen. In der Folgezeit gab es weitere Zusammenkünfte, bei denen regelmäßig viel Bier floß, um später gemeinsame Fotos mit Fahnen und Pyrotechnik zu machen. Dabei schien der Eventcharakter gegenüber der dauerhaften Organisierung im Vordergrund zu stehen.
Zu dieser Zeit rekrutiert sich das Klientel um DJV größtenteils aus Freundeskreisen junger Männer aus dem Umfeld unterschiedlicher Fußballfanszenen in Berlin. Auf diese Weise konnten die neuen Netzwerke innerhalb kurzer Zeit ein nicht zu unterschätzendes Personenpotential um sich sammeln.
Queerfeindliche Aufmärsche als Professionalisierungsmotor
Mit dieser Strategie war DJV nicht allein. In Berlin und Umland waren mit den Ablegern von "Der Deutsche Störtrupp" (DST) und „Jung & Stark“ (JS) ab dem Frühsommer 2024 mindestens zwei ähnliche Gruppierungen aktiv, die sich teilweise personell überschnitten. Deutschlandweit war die Gruppe „Elblandrevolte“ (ELR) aus Dresden das Vorbild für diese neuen Formen neonazistischer Organisierung. Ihr Störversuch des CSD in Dresden im Juni 2024 dürfte die Blaupause für den versuchten Angriff in Berlin gewesen sein. Zumindest in der Zeit nach dem 27. Juli gab es persönliche Treffen zwischen DJV und ELR. Doch der Kontakt verflachte schnell wieder. Während DJV und JS in den Sommermonaten versuchten, in wechselnden Orten (Ost-)Deutschlands CSD-Veranstaltungen zu stören, erinnerte die innere Dynamik eher an Freundeskreise oder Cliquen. Zusammengehalten wurden sie von den wöchentlichen Aufmärschen sowie einem massiven Alkohol- und Drogenkonsum. Die Gruppenzusammensetzung änderte sich beständig.
Trotzdem bildete sich in dieser Zeit ein personeller Kern zwischen DJV und JS heraus, der sich in aktionistischer Hinsicht professionalisierte. Waren die Berliner Neonazis bei der extrem rechten Demonstration gegen den CSD in Bautzen am 10. August 2024 nur Bannerträger, übernahmen sie bereits eine Woche später in Leipzig Ordneraufgaben. Den Protest in Magdeburg am 24. August 2024 organisierte das Spektrum um DJV und JS bereits mit. Dabei entstanden Kontakte zu ähnlichen Gruppierungen aus anderen Städten, wie „Chemnitz Revolte“ oder „Deutsche Jugend Zuerst“ aus dem Raum Halle-Leipzig. Dennoch erschienen zum ersten eigenen Aufmarsch von DJV im September 2024 gegen den CSD in Oranienburg nur 52 Neonazis.
Extrem rechte Straßengewalt
Indem die queerfeindlichen Proteste das personelle Potential der bundesweit verstreuten Jugendgruppen bündelten, entstanden zumindest kurzfristig Zonen neonazistischer Dominanz in den jeweiligen Städten. Doch mit dem Abflachen von CSD-Veranstaltungen im Herbst 2024 stellte sich die Frage, ob und wie die neuen Neonazi-Gruppierungen weiter agieren würden. In Berlin hatte sich über den Sommer 2024 ein aktionsorientierter Kern von DJV und JS gebildet. Vor allem die Gruppe um Julian Milz, Nick Thomas Christopher W.,
Phillipe B. und Vincent G. traf sich regelmäßig für Aktivitäten unter der Woche.
Neben Kneipenabenden begingen die Neonazis gemeinsam Übergriffe oder zogen als Großgruppe bedrohlich durch verschiedene Berliner Kieze. Generell verschob sich das Aktionsspektrum in dieser Zeit stärker hin zur Auseinandersetzung mit dem „politischen Gegner“. Als im Oktober 2024 eine feministische Antifa-Demonstration im Bezirk Marzahn angekündigt wurde, reagierte das Spektrum um DJV und JS mit der Organisation des ersten Neonazi-Aufmarschs in Berlin seit 2020. Politisch war die bundesweit mobilisierte Demonstration mit rund 150 Teilnehmenden wenig erfolgreich. Neben den neuen Neonazi-Jugendgruppen liefen lediglich einzelne lokale Neonazis aus dem Spektrum von „Die Heimat“ oder des „Der III. Wegs“ am Rand mit. Dennoch kam es im Umfeld des Aufmarsches zu mehreren Übergriffen auf Antifaschist*innen und Journalist*innen.
Steigender Repressionsdruck
Wenige Tage später folgte eine Reihe polizeilicher Durchsuchungsmaßnahmen, die sich maßgeblich gegen die neuen Neonazi-Jugendgruppen und ihre Umfelder richteten. Ebenfalls durchsucht wurde der junge Neonazi Janeck Wolfgang G., der in sozialen Medien mit Polizeiweste und Waffen posiert haben soll. Hintergrund der Razzien waren zwei Übergriffe auf Antifaschist*innen in den zurückliegenden Monaten. Nach einem der Vorfälle veröffentlichte DJV selbst ein Bild auf Instagram, wie sie zu siebt mit einem geraubten Antifa-T-Shirt in einer Kneipe posieren. Seit den Durchsuchungen sitzt Julian Milz, einer der führenden Köpfe von DJV, in Untersuchungshaft.1 Dennoch hält sich die öffentliche Solidarität mit ihm in Grenzen.
Zugleich distanzierte sich der „III. Weg“ umgehend von den betroffenen Strukturen. In den Monaten zuvor hatten einzelne Personen aus dem Spektrum von DJV und JS wie Nick Thomas Christopher W. und Carsten G. die Nähe zur Neonazipartei gesucht. Sie nahmen an Propagandaaktionen sowie an mindestens einem Kampfsporttraining teil. Dennoch dürften sie zu keinem Zeitpunkt ernsthaft im Kern der Partei gewesen sein. Auch zu anderen Parteien der extremen Rechten konnte das Spektrum um DJV und JS keinen dauerhaften Kontakt herstellen. Dabei scheiterten die Annäherungsversuche an die „Jungen Nationalisten“ wahrscheinlich an der politischen Schwäche von „Die Heimat“ in Berlin.
Die AfD hilft bei der Demo-Orga?
Allerdings zeigen Angehörige von DJV und JS offen ihre Sympathien für die AfD und besuchten in der Vergangenheit mehrfach Parteiveranstaltungen in Berlin und Brandenburg. Zuletzt scheinen sich die politischen Verbindungen zu Teilen der AfD zu verstärken. Ein Grund für diese Entwicklungen könnte der AfD-Bundestagsabgeordnete2 Matthias Helferich aus Dortmund gewesen sein. Obwohl er in der vergangenen Legislaturperiode formal noch fraktionslos war, hatte er die Möglichkeit, über das Bundespresseamt „politisch interessierte Bürger“ kostenlos für mehrere Tage nach Berlin einzuladen. Im Oktober 2024 war unter den Teilnehmenden dieser sogenannten BPA-Fahrt auch Ferhat Sentürk. Das damalige AfD-Mitglied aus Aachen tritt kurze Zeit später als erste Person für ein sogenanntes "Aktionsbündnis Berlin-Brandenburg" auf, um zu einer extrem rechten Demonstration Ende 2024 nach Berlin-Friedrichshain aufzurufen. Im Zeitraum der BPA-Fahrt entstanden mehrere Fotos, die Matthias Helferich unter anderem mit dem AfD-Lokalpolitiker Maximilian Fritsche aus Eberswalde und dem Brandenburger Neonazi Luka Z. aus dem Spektrum von DJV bei einer gemütlichen Bierrunde in Berlin-Neukölln zeigen. Neben Sentürk traten auch Fritsche und Z. im Kontext vom „Aktionsbündnis“ auf, dessen Demonstration im Dezember von Jannik G., einem engen Freund von Z., geleitet wurde.
Die zeitliche Nähe und die personelle Zusammensetzung der Fotos lässt einen Zusammenhang mit der BPA-Fahrt von Matthias Helferich vermuten. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass sich auf einem aus Bundesmitteln finanzierten Austausch extrem rechte Strukturen vernetzt haben.
"Aktionsbündnis Berlin-Brandenburg"
Als der Aufmarsch vom „Aktionsbündnis Berlin-Brandenburg“ am 14. Dezember
2024 stattfand, blockierten Antifaschist*innen die knapp 120 Neonazis, die teilweise aus mehreren Bundesländern nach Berlin reisten, nach wenigen hundert Metern. Dennoch kündigte Sentürk zusammen mit Maximilian Fritsche (AfD) weitere Aufmärsche in Berlin an. Am 22. Februar 2025 marschierten 150 Neonazis durch den Bezirk Mitte. Für März 2025 wurde die nächste Versammlung wiederum in Friedrichshain geplant. Maßgeblich organisiert wurde der Aufmarsch über verschiedene WhatsApp-Gruppen, die u.a. Sentürk und Fritsche administrierten.
Obwohl sich die Teilnehmenden der Aufmärsche größtenteils aus dem Spektrum der neuen rechten Jugendgruppen rekrutieren, können sie deren Personenpotential bislang nicht dauerhaft binden. Stattdessen kommt es höchstens zu punktuellen Kooperationen, zum Beispiel beim Ordnungsdienst. Dies liegt einerseits an andauernden persönlichen und politischen Auseinandersetzungen innerhalb von DJV und JS, welche die Bildung einer arbeitsfähigen Gruppe bislang verhindern.
Zudem ist die Person Ferhat Sentürk zu kontrovers, um als politische Integrationsfigur zu dienen. Somit dienten die Versammlungen vor allem der politischen Selbstdarstellung Sentürks. Nach seinem Ausscheiden aus der AfD versuchte er sich unabhängig von der Partei als Akteur in der extrem rechten Bewegung im Schnittpunkt zum organisierten Neonazismus zu etablieren.
Dennoch geht von solchen Versammlungen ein unverkennbares Bedrohungsszenario aus. So wurden am 14. Dezember 2024 einige auswärtige Neonazis bereits bei der Anreise in Berlin-Lichterfelde verhaftet, nachdem sie Wahlkämpfer*innen der SPD angegriffen hatten. Teile der am Angriff beteiligten Gruppe marschierten später Seite an Seite mit DJV und JS durch Friedrichshain.
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Nachtrag: Am 9. März 2025 wurde Julian Milz vom Amtsgericht in Berlin wegen mehreren Überfällen und Bedrohungen zu einer Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Allerdings erhielt er bis zum Haftantritt eine Haftverschonung.
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Nachtrag: Anfang Juli 2025 wurde er erstinstanzlich vom nordrhein-westfälischen Landesschiedsgericht aus der Partei ausgeschlossen.