Neue junge Neonazis: Radikale Normalität
Antifaschistische Recherche ChemnitzBei den Landtagswahlen 2024 wählten 31 Prozent der 18 bis 24-Jährigen in Sachsen die AfD, bei U18- und U16-Wahlen fiel die Zustimmung oftmals noch wesentlich höher aus. Junge Neonazis fallen in vielen sächsischen Städten im Stadtbild auf und scheinen die Jugendkultur zu dominieren. In anderen ostdeutschen Bundesländern sieht es ähnlich aus.

Schwippbogen und Hitlergruß beim „Revolte Chemnitz“ Plenum.
Im Sommer 2024 sorgten hunderte, meist sehr junge Neonazis mit ihrem Auftreten auf Demonstrationen gegen zahlreiche „Christopher Street Days“ (CSDs) für Aufsehen. Vielen schien es, als kämen diese zuvor politisch noch nicht in Erscheinung getretenen Personen und Gruppen aus dem Nichts. Umso größer waren die Schlagzeilen, denn mit dem Auftreten dieser neuen rechten Generation zeigte sich eine besorgniserregende Entwicklung: Im Zuge der sächsischen Kommunalwahlen 2024 wurden Wahlkämpfer*innen angegriffen, u.a. der SPD-Politiker Matthias Ecke. Junge Neonazis, die von einem Protest gegen einen CSD kamen, griffen brutal eine Frau in einem Linienbus an, junge Männer aus Sachsen-Anhalt, die aus ebendieser Szene stammen, schlugen ein SPD-Wahlkampfteam in Berlin zusammen. In Görlitz kam es zu einem Angriff u.a. auf Linken-Politiker*innen, der Anführer der sogenannten „Elblandrevolte“ soll daran beteiligt gewesen sein.
Rechte Mobilisierung in der Pandemie: Aufstieg junger Neonazis
Während der Corona-Pandemie traten vielerorts junge Neonazis in Erscheinung, die zunächst unabhängig von etablierten rechten Strukturen agierten. Rechte Treffpunkte blieben zugänglich und boten Jugendlichen Anlaufstellen, vor allem aber kamen sie in Sozialen Medien mit rechter Propaganda in Kontakt, während Schule, Sozialarbeit und Freundeskreise zur Zeit des Lockdowns als wichtige Korrektive wegfielen. Die extrem rechte Szene schuf Freizeitangebote wie Kampfsport und vermittelte online wie offline klare Feindbilder, die für viele Jugendliche attraktiv erschienen. „Corona-Demonstrationen“ wurden zum Experimentierfeld für junge Rechte, die dort erste Gewalterfahrungen und Selbstbewusstsein sammelten. Beispiele sind der Angriff auf ein Kamerateam des MDR während einer Corona-Demonstration im November 2021 in Zwickau oder der versuchte Angriff auf eine linke Gegendemonstration im Juli 2021 in Zwönitz.
Die sich in diesem Kontext bildenden Strukturen und losen Gruppierungen unterscheiden sich in mehreren Aspekten von den gängigen neonazistischen Organisationsformen. So ist in den meisten Fällen keine explizite Bindung an neonazistische Parteien wie den „Der III. Weg“ oder „Die Heimat“ (ehem. NPD) und deren Strukturen, Ressourcen und Erfahrungswissen vorhanden. Die Mitglieder sind im Durchschnitt recht jung, meist zwischen 16 und 18 Jahren, wobei einige sogar erst im frühen Jugendalter sind.
Dass sich an den jüngsten Mobilisierungen und den beteiligten Gruppen kaum ältere und erst recht keine erfahrenen Neonazis beteiligen, weist darauf hin, dass hier nahezu keine Überschneidungen mit etablierten rechten Strukturen vorhanden sind. Im Umkehrschluss lässt sich vermuten, dass sich die neuen Gruppen vielmehr aus einer sie animierenden und ermutigenden gesellschaftlichen Stimmungslage heraus bildeten und bisherige rechte Parteien mehr als Zugpferd und der Identifikation dienten, als tatsächlich zur Strukturbildung beigetragen zu haben. Hierbei spielt die AfD für die jungen Neonazis tatsächlich eine wesentlich größere Rolle als die genannten neonazistischen Parteien.
Die 90er Jahre sind zurück, aber mit TikTok
Besonders auffällig ist die starke Nutzung von Social Media bei den Mitgliedern und ihrem Umfeld – sei es Instagram, TikTok, Tellonym oder NGL. Charakteristisch wie zweideutig ist die immer wieder ausgerufene „Folgepflicht“, mit der nahestehende Profile beworben werden. Der Großteil scheint hier sehr offen (oder unbedarft) mit der eigenen politischen Einstellung, aber auch der eigenen Organisierung umzugehen. Die neuen Neonazis treten offensiv in sozialen Medien auf, die von Gleichaltrigen genutzt werden, und zeigen dort vor allem in Sprache und Ästhetik eine ausgeprägte Radikalität. Sie verwenden Gruppennamen wie „… Revolte“ für verschiedene Städte, Bezeichnungen wie „Deutsche Jugend zuerst/voran“ oder „Jung & Stark“. Gruppenbilder und das Posieren mit szeneeigenen Influenzern sind beliebte Inhalte, während letztere traditionelle Führungsfiguren ersetzen.
Gleichzeitig gibt es jedoch auch einen positiven Rückbezug auf frühere Organisationsformen und - stile. Die Gruppen orientieren sich stilistisch an neonazistischen Jugendgruppen der 1990er Jahre. Einige ihrer Mitglieder greifen gar auf die klassisch rechte Skinhead-Ästhetik zurück.
Die Gruppenbildung und Radikalisierung junger Neonazis erfolgt nicht nur über soziale Medien, sondern auch in (bestehenden) Freundeskreisen, bei Besuchen verschiedenster rechter Aufmärsche und in der Fußballszene. Das offene Auftreten als Neonazi wird zunehmend wieder Teil einer selbstbewussten Jugendkultur mit hegemonialem Anspruch. Diese Entwicklungen führen zu Mobilisierungs- und Radikalisierungserfolgen in der neonazistischen Szene, zeigen jedoch auch einen fehlenden Wissenstransfer von etablierten Strukturen hin zu den neuen Gruppen.
Das aggressive Auftreten der jungen Neonazis in Versammlungen und vielerorts auch im Alltag, das auf verbale und ästhetische Radikalität abzielt, offenbart neben einem neuen Selbstbewusstsein auch eine fehlende Wahrnehmung von Repressionspotenzialen und möglichen Gegenmaßnahmen. Mangelnde Erfahrung mit jeglicher Gegenwehr, insbesondere staatlicher Repression, aber auch Widerspruch im persönlichen Umfeld, könnten Gründe für dieses Verhalten sein.
Das Zeigen von „White Power“-Gesten oder queeren Menschen den Tod zu wünschen, mag für manche von außen wie ein kaum nachvollziehbarer Sprung in die Radikalität erscheinen, jedoch sind viele der jungen Neonazis in einem Umfeld aufgewachsen, in dem Rassismus und Queerfeindlichkeit zur unwidersprochenen Normalität gehören. Oft zeigt sich bei ihnen trotz dieses Hintergrundes jedoch eine Diskrepanz zwischen einem radikalen Auftreten und ihrer nur in Teilen gefestigten Ideologie. Viele entwickelten sich innerhalb weniger Monate von in einem rechten Umfeld aufgewachsenen, durchschnittlichen Jugendlichen hin zu politischen Aktivist*innen. Einige Akteure sind in ihren rechten Elternhäusern zu aktiven Neonazis herangewachsen und wurden schon im Kindesalter mit auf einschlägige Demonstrationen genommen. Organisatorische Führungsrollen ein Vierteljahr nach den ersten nachweisbaren politischen Äußerungen sind keine Seltenheit. Ideologische Schulungen, wie sie in neonazistischen Parteijugenden, wie sie bei den „Jungen Nationalisten“ (JN) und der „Nationalrevolutionären Jugend“ (NRJ) zum Programm gehören, sind jedoch von der Lebenswelt der neuen Gruppen weit entfernt.
Eigene Inhalte oder ein Gesellschaftsentwurf lassen sich bei diesen neuen Neonazis nicht feststellen. Sie treten dort in Erscheinung, wo progressive Strömungen an die Öffentlichkeit treten, seien es queere Menschen, Menschen, die sich mit Geflüchteten solidarisch erklären, vermeintliche politische Gegner*innen und andere Menschen, die nicht in ihr Weltbild gehören. So waren sämtliche Demonstrationen und Störaktionen, die aus dieser Bewegung im Jahr 2024 hervorgingen, gegen die genannten Gruppen gerichtet. Die geringe ideologische Stabilität zeigt sich ebenso in der hohen Fluktuation der Mitglieder, die oft nur flüchtiges Interesse an politischem Aktivismus zeigen und vor allem an der radikalen Ästhetik, Gruppenzugehörigkeit und dem „Dabeisein“ interessiert scheinen.
In diesem Kontext entstehen neue Gruppen: „Wir wollen etwas verändern und zeigen dass wir Chemnitzer auch etwas aufbauen können, was auch länger hält als bisherige Gruppierungen [sic]“ – so stellt sich die „Chemnitz Revolte“ im Oktober 2024 auf Instagram selbst vor. Damals beschreiben sie auch selbst, wie die Gruppe entstanden ist: Erst war es ein Freundeskreis, der sich zusammen politisierte. Nachdem diese Entwicklung viel Resonanz hervorrief, machten sie die Gruppe unter dem Namen „Chemnitz Revolte“ Ende September 2024 öffentlich. Am 3. Oktober 2024 mobilisierte die „Chemnitz Revolte“ nach Hohenstein-Ernstthal bereits zu ihrer ersten eigenen Demonstration. Trotzdem fungiert die Gruppe eher als eine Art Freundeskreis, wobei der Eventcharakter wichtiger zu sein scheint, als die zugrunde liegende politische Organisierung.
Sicher aber ist, dass die neue Generation sehr junger Neonazis nicht einfach verschwinden wird. Dahher ist es wichtig, die Entwicklungen auch weiterhin aufmerksam zu beobachten.