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Der Fall Zaid

Anna Magdalena Busl und Rasmus Kahlen
Einleitung

„Das ist kein Zufall, was mit mir passiert und auch keine Besonderheit. Solange Geburtsorte und Papiere über Freiheit, Würde und Rechte bestimmen, wird es unvermeidlich, dagegen zu kämpfen, gegen Unrecht, das sich tief in diesem System befindet. Es geschieht offener und öfter, die Gleichgültigkeit über migrantische Menschenleben. Ohne Gerechtigkeit kein Frieden.“ (Zaid)

Free Zaid

Trotz „Systemversagen“ in Ungarn droht dem Antifaschisten Zaid die Auslieferung nach Budapest. Eine Einschätzung von den Rechtsanwält*innen Anna Magdalena Busl und Rasmus Kahlen.

Der Unterschied

Wie auch sechs andere Betroffene stellte sich Zaid A. am 20. Januar 2025 bei der Polizei, Zaid A. beim Polizeipräsidium Köln. Ein wagemutiger Schritt, kein leichtfertiger, und vor allem ein Schritt in dem Wissen: Dies kann bedeuten, nach Ungarn ausgeliefert zu werden. Im Fall von Zaid aber mit einem gravierenden Unterschied: Er ist syrischer Staatsangehöriger.

Wirklich ein Unterschied?

Zaid wird, wie den anderen Beschuldigten auch, vorgeworfen, als Mitglied einer kriminellen Vereinigung Körperverletzungsdelikte anlässlich des „Tag der Ehre“ in Budapest begangen zu haben. Soweit: Kein Unterschied. Und: Auch bezüglich Zaid führte zunächst die Generalstaatsanwaltschaft Dresden ein Ermittlungsverfahren und es erfolgte eine Übernahme des Ermittlungsverfahrens durch den Generalbundesanwalt. 

Auch hier: kein Unterschied zu den anderen Beschuldigten. Während der Generalbundesanwalt (GBA) bei den anderen Beschuldigten jedoch den Vorrang des deutschen Verfahrens statierte, wurde eine entsprechende Erklärung bezüglich Zaid nicht abgegeben. Die Begründung: Zaid sei kein deutscher Staatsangehöriger, der Tatort sei Ungarn, die (vermeintlichen) Opfer keine deutschen Staatsangehörigen. Das ist korrekt. Aber: Ermittelt wurde und wird auch wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, so dass durchaus ein rechtlicher Anknüpfungspunkt für ein Verfahren in der BRD gegeben ist.

Unterschiede und Widersprüche…

Während also derzeit gegen Hanna am OLG München, u.a. wegen Mitgliedschaft in einer (inländischen) kriminellen Vereinigung verhandelt wird, deren Ziel es gewesen sein soll, „in Deutschland und anderen europäischen Staaten - insbesondere anlässlich der Veranstaltungen zum „Tag der Ehre“ in Budapest - gemeinsam Gewaltstraftaten gegen Angehörige des politisch rechten Spektrums zu begehen“, und dabei Zaid ebenso als Mitglied benannt wird, während in den Haftbefehlen des BGH gegen die weiteren Beschuldigten stets der dringende Tatverdacht wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung bejaht wurde, und Zaid dort stets als Mitglied ebenso benannt wird, heißt es bezüglich Zaid von Seiten des GBA: Ein „Tätigwerden“ von Zaid als Mitglied einer kriminellen Vereinigung in der Bundesrepublik hätten die Ermittlungen nicht ergeben, ein Vorrang des deutschen Verfahrens „gegenüber den schwerwiegenden Straftaten in Ungarn“ sei daher nicht gegeben. Das mutet wenigstens widersprüchlich an. Denn zumindest nach hiesigem Wissen gibt es keinen Unterschied in den Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden, ob zu Zaid oder zu den anderen Beschuldigten, hinsichtlich der Bildung einer kriminellen Vereinigung in Deutschland. Während dies aber bei den anderen Beschuldigten dazu führt, dass seitens des Generalbundesanwaltes ein dringender Tatverdacht angenommen wird, sollen dieselben Erkenntnisse bei Zaid zu dem Ergebnis führen, dass ein solcher eben mangels Zuständigkeit nicht gegeben ist? So sieht es jedenfalls der Generalbundesanwalt, mit der Folge, dass Zaid nach Ungarn ausgeliefert werden könnte.

Dabei wäre eine gegenteilige Entscheidung ohne Weiteres und mit Leichtigkeit begründbar und hätte zur Folge, dass keine Auslieferung eines jungen Menschen nach Ungarn in einen rechtsautoritären Staat erfolgen könnte. Aber der Generalbundesanwalt hat anders entschieden. Und der ausschließliche Grund: die syrische Staatsangehörigkeit, die nicht-deutsche Staatsangehörigkeit.

Um es nochmals klar zu sagen: Rechtlich hätte es durchaus einen Anknüpfungspunkt für den Vorrang eines deutschen Ermittlungsverfahrens gegeben: Der Vorwurf der Bildung der kriminellen Vereinigung in der Bundesrepublik. Aber dieser wird bei Zaid verneint. Zaid könnte damit eine Gleichbehandlung zu Teil werden, die ihm mit vorgeschoben wirkenden Argumenten verwehrt wird.

Auslieferung nach Ungarn zulässig?

Ein wenig nachvollziehbares Verhalten legt aber nicht nur der Generalbundesanwalt an den Tag. Angesichts der seit langer Zeit geführten öffentlichen Diskussionen um die Frage, ob der ungarische Staat sich bereits ganz oder nur in Teilen von demokratischen Prozessen und Rechtsstaatlichkeit verabschiedet hat, mutet die Selbstverständlichkeit, mit der die Berliner Justiz die Auslieferung von Zaid an die dortige Strafverfolgung betreibt, befremdlich an. Seitens der Generalstaatsanwaltschaft Berlin wird trotz der offenkundigen Mängel an Rechtsstaatlichkeit des ungarischen Justizsystems das Auslieferungsverfahren bzgl. Zaid ohne Äußerung auch nur leiser Zweifel betrieben. Das für die Entscheidung zuständige Kammergericht, welches bereits die Überstellung von Maja T. für zulässig erklärte, machte bereits in verschiedenen Entscheidungen klar, dass man ob der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht zwar die Umstände der Überstellung von Maja T. für rechtswidrig erklärte, nicht aber im Generellen einer Auslieferung von Verfolgten nach Ungarn einen Riegel vorschob, ausschließlich über das „wie“, nicht aber über das „ob“ nachdenken wolle.

Dabei liegen sämtliche Tatsachen offen. Es ist bekannt, unter welchen Bedingungen Maja inhaftiert ist, unter welchen Bedingungen sie sich (nicht) verteidigen kann, unter welchen Bedingungen sie vorgeführt wird. Es ist bekannt, unter welchen Bedingungen das dortige Strafverfahren stattfindet, dass grundlegende Rechte wie das Recht auf ein faires Verfahren, Akteneinsichtsrechte, die Verhältnismäßigkeit von Tat und Strafe und das Recht auf einen unabhängigen Richter nicht nur unterlaufen werden, sondern schlicht nicht gelten. Es ist also bekannt, wie weit sich Ungarn tagtäglich von rechtlichen Standards und der Garantie von Rechten entfernt, deren Einhaltung und Garantie hier doch stets als wesentlich angesehen werden.

„Darf die Justiz das alles einfach ignorieren? Nein, sie darf es nicht. Ich glaube sogar, dass die Justiz dem Rechnung tragen und dementsprechend die Normen interpretieren muss. Dementsprechend habe ich am Ende meines Plädoyers gesagt, dass ich nicht der verlängerte juristische Arm Orbans in Italien bin, und dies auch nicht sein will und deshalb M. (...)1 nicht einem Justizsystem übergeben will, das die Vertrauenswürdigkeit verloren hat“, äußerte der Staatsanwalt Cuno Tarfusser in klaren Worten, und lehnte eine Auslieferung von Gabriele M. (Gino) ab, dem das Gericht in Mailand folgte.

Und auch das Gericht in Paris im Falle von „Gino“ kam zu dem Ergebnis, gerade im Hinblick auf die erwiesenen Tatsachen bezüglich Maja: „Die Bescheinigung von (...)/(Maja) wirft Fragen auf, sowohl hinsichtlich der Verwendung einer langfristigen, kontinuierlichen Videoüberwachung in der Zelle, die laut der ungarischen Antwort nur bei einem hohen Risiko der Selbstverstümmelung oder des Selbstmords eingesetzt wird, als auch hinsichtlich der monatelangen vollständigen Isolation mit Handschellen außerhalb der Zelle. Die Schutzmaßnahme der Isolation, wie sie vorgeschlagen und angesichts dieser Elemente praktiziert wird, stellt somit eine Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention dar. Dies gilt umso mehr, als die ungarischen Behörden nicht genau auf die Garantien zur Überprüfung der Haftbedingungen und insbesondere auf die Kontrollmechanismen und Rechtsmittel geantwortet haben, und als die Höchststrafe für die verfolgten Taten 24 Jahre Haft und nicht 16 Jahre, wie ursprünglich vorgeschlagen, beträgt.“ Und: „Vor diesem Hintergrund des Systemversagens und angesichts der heftigen öffentlichen Beschimpfungen der Angeklagten durch den Regierungssprecher sowie der extremen Sicherheitsmaßnahmen, die während des Prozesses gegen Ilaria (…) und (…)/(Maja) ergriffen wurden und die im Vergleich zu den angeklagten Taten unverhältnismäßig erschienen, ist zu befürchten, dass (...)/(Gino) das Recht auf ein faires Verfahren, das in Artikel 5 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und Artikel 47 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist, nicht wahrnehmen kann.“

Es bedürfte also nicht viel: Ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen, welche Mängel im ungarischen Rechtssystem herrschen, ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen, dass derzeit eine bereits aus Deutschland ausgelieferte Person unter die Menschenrechte verletzenden Umständen in Ungarn festgehalten wird und abgeurteilt werden soll. Ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen, dass hier junge Antifaschist*innen einem System geopfert würden, das mit der Wahrung unveräußerlicher Rechte nichts gemein hat.

Die deutsche Justiz muss sich die Frage gefallen lassen, warum sie dies, wenigstens bislang, nicht zur Kenntnis nehmen will. 

Gefahr der Auslieferung besteht weiterhin

Das vorerst positive im Falle von Zaid ist: Zaid A. wurde am 02. Mai 2025 haftverschont und konnte die JVA Köln verlassen. Der Auslieferung nach Ungarn ist mit diesem Beschluss jedoch keine Absage erteilt worden. Auch im jüngsten Beschluss des Kammergerichts Berlin heißt es, dass eine Auslieferung nach Ungarn nicht von vornherein als unzulässig angesehen wird, und weitere konkretisierende Erklärungen Ungarns abzuwarten sein werden. Hintergrund der derzeitigen Haftverschonung ist vielmehr die Frage, welches Gericht für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zuständig ist, die durch den BGH zu klären ist.2 Da dies Zeit in Anspruch nehmen wird, wurde die weitere Aufrechterhaltung der Auslieferungshaft zu Recht als nicht mehr verhältnismäßig angesehen.

Was tun!

Es wird also auch weiterhin darum gehen müssen, die offenliegenden Tatsachen hinsichtlich des Charakters des Staats Ungarn wieder und wieder darzulegen und klarzustellen: Nein, eine Auslieferung nach Ungarn ist mit grundlegenden rechtlichen Garantien nicht vereinbar. Nein, es darf keine weitere Auslieferung geben, und ja, es wäre vielmehr alles von den deutschen Behörden dafür zu tun, die rechts- und verfassungswidrige Auslieferung Majas rückgängig zu machen! Noch wird man hier das Gefühl nicht los, dabei gegen Wände zu laufen, gegen monolithische Wände in einer bundesdeutschen Justiz, und das Ziel wird sein, dass diese in ein wenigstens leichtes Schwanken geraten, mindestens angesichts der Entscheidungen, die lediglich wenige hundert Kilometer weiter, ebenso in Staaten der Europäischen Union, getroffen wurden: gegen eine Auslieferung. Es liegt an uns, hierfür weiterhin rechtlich und politisch zu kämpfen, und dabei auch deutlich in den Blick zu rücken, was die Initiative gegen die Auslieferung Ginos von u.a. französischen Intellektuellen, herausstellte: Während Antifaschist*innen in Ungarn 24 Jahre Haft droht, diese monatelang in Untersuchungshaft isoliert werden, blieben Neonazis höchstens wenige Tage in Haft. Während Antifaschist*innen von Viktor Orbán, von ungarischen extrem rechten Europaabgeordneten und der regierungsnahen Presse als „Bande“ von Schlägern, Kriminellen oder Terroristen bezeichnet werden, wird der Aufmarsch der (Neo)Faschisten zum „Tag der Ehre“ mit öffentlichen Geldern unterstützt. Es geht also nicht „nur“ um die Auslieferung nach Ungarn. Es geht auch darum, wie und ob man sich einer Entwicklung, die (Neo)Faschisten protegiert und diese fördert, entgegenstellt oder dieser durch die Relativierung von menschenrechtlichen Garantien sogar Vorschub leistet.

Nachtrag AIB:

Laut Presseberichten floh Zaid zwischenzeitlich nach Frankreich und stellte sich dort Anfang Oktober 2025 der Polizei in Paris. Zaid sei demnach nach einer ersten Prüfung seines Falls unter Auflagen von der Haft verschont worden. Bis französische Gerichte über seine Auslieferung entscheiden, müsse sich regelmäßig bei der Polizei melden.

  • 1

    gemeint ist der Antifaschist Gabriele M. (Gino)

  • 2

    Hintergrund ist, dass im Januar 2025 in selbigem Komplex eine Entscheidung durch das Thüringer Oberlandesgericht getroffen wurde, das sich für zuständig erachtete. Die Frage, die durch den BGH entschieden werden soll, ist, ob das Gericht, das zuerst mit der Sache befasst war, wie hier das Kammergericht im Fall Maja T., auch dann noch örtlich zuständig ist, wenn dieses Verfahren bereits abgeschlossen ist, und ein weiterer Betroffener, wie hier u.a. Zaid, in einem anderen Gerichtsbezirk „ergriffen“ wird, wie dies hier der Fall war, da sich Zaid A. im Bezirk des OLG Köln stellte.