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1. Mai 1997: Ein zweites München blieb aus

Einleitung

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Eigentlich sollte der geplante JN/NPD- Aufmarsch am 1. Mai in Leipzig zum Triumphzug des gesamten neonazistischen und rechten Lagers werden. Im Vorfeld hatte die NPD mit Teilnehmerzahlen bis zu 10.000 Neonazis aus allen Teilen Deutschlands geprahlt und gehofft, an den Aufmarsch gegen die sog. Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung in München anknüpfen zu können. Bis zuletzt schien es, als wenn die Gerichte den Aufmarsch unter dem Motto »Arbeit zuerst für Deutsche« zulassen würden. Doch dann kam alles ganz anders... Ein Rückblick lohnt sich, auch wenn der 1. Mai mittlerweile schon zwei Monate zurückliegt.

Foto: Christian Ditsch

Der Neonazi-Kader Steffen Hupka (rechts) am 1. Mai 1997 in Hannoversch Münden.

Vor dem 1. Mai 1997 in Leipzig

Die Planungen für einen zentralen »Aktions- und Kampftag des nationalen Widerstands« unter der Führung der JN waren schon seit dem JN-Aufmarsch in Berlin-Marzahn am 1. Mai 1996 im Gange. Im JN-Blatt „Einheit und Kampf“ schrieb der JN-Bundesvorsitzende Holger Apfel Ende 1996: »Für das kommende Jahr hat die NPD in Abstimmung mit den JN beschlossen, nicht mehr am Tag einer imaginären 'deutschen Einheit', sondern als Partei der wirtschafts- und sozialpolitischen Erneuerung das bundesweite Deutschlandtreffen am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, durchzuführen.«

Anfang März erschien im extrem rechten "Thule-Netz" dann ein von Steffen Hupka (Ex-NF- Kader aus Quedlinburg, mittlerweile JN- Führungskader und immer noch Herausgeber des »Schulungs«-Blättchens „Umbruch“) verfasster Aufruf im Namen der JN zum 1. Mai-Aufmarsch in Leipzig. Mit den bekannten Parolen wurde eine Großdemonstration angekündigt. Kurze Zeit später tauchten in Leipzig, Magdeburg, Potsdam und anderen Städten Neonaziflugblätter in Arbeitsämtern auf, die zum Aufmarsch in Leipzig mobilisierten. Die Auftaktveranstaltung war am Völkerschlachtdenkmal geplant; anschließend sollte ein zweistündiger Marsch durch den angrenzenden Stadtteil Stötteritz stattfinden. Einer der geplanten »Höhepunkte«: Der Auftritt des früheren „Wiking Jugend“-Barden Frank Rennicke.

Daraufhin begannen AntifaschistInnen in Leipzig mit der Gegenmobilisierung. Das Bündnis gegen Rechts (BgR) machte eine sehr erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit und setzte Landes- und Stadtpolitiker sowie Gewerkschaften unter Zugzwang. Der DGB sah sich gezwungen, seine zentrale Mai-Kundgebung für Sachsen nach Leipzig zu verlegen und alle kleineren Kundgebungen in Sachsen abzusagen. Landespolitiker wie Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) und einige Kirchen-Obere entdeckten plötzlich ihre Abneigung gegen die NPD. Die Stadt selbst spielte ein doppeltes Spiel: Einerseits ließ sie schon früh verkünden, daß der Aufmarsch verboten werden würde; andererseits wurde zunächst erst mal eine Gegendemonstration verboten. Die Gerichtsentscheide waren ähnlich konfus - dem Verbot der Stadt Leipzig folgte eine Verbotsbestätigung durch das Verwaltungsgericht Leipzig, die vom Oberverwaltungsgericht in Bautzen aufgehoben wurde. Ein neuerliches Verbot der Stadt wurde dann am 30. April - vor allem mit Bezug auf die erwarteten »Störungen der öffentlichen. Sicherheit und Ordnung« durch antifaschistische Gegendemonstrantinnen und plötzliche Neueinschätzungen der TeilnehmerInnenzahl des Neonaziaufmarsches durch den bis dahin abwiegelnden Verfassungsschutz vom Verwaltungsgericht Leipzig bestätigt.

Der Gerichtsreigen zeigte wieder einmal, wie sehr NPD und JN von ihrem Parteienstatus profitieren. Erfreulich ist, daß der Versuch von Verfassungsschützern und Staatsschutz, bis zuletzt die Dimension des Neonaziaufmarsches gegenüber den Medien zu verharmlosen, an der Öffentlichkeitsarbeit des BgR scheiterte.

Mini-Aufmarsch in Hannoversch Münden

Am Tag selber herrschte innerhalb der NPD und JN organisatorisches Chaos. Man hatte offensichtlich nicht mehr mit einem endgültigen Verbot gerechnet. Das Verbot führte zur Spaltung und Zersplitterung: Versuche der NPD, am 30. April / 1. Mai kurzfristig Ersatzveranstaltungen in Halle, Cottbus, Bad Hersfeld und Aschaffenburg anzumelden, scheiterten. Am Abend des 30. April mobilisierten die Mehrzahl der „Nationalen Infotelefone“ dann in den Großraum Frankfurt, am 1. Mai ab 5 Uhr morgens in den Raum Kassel / Bad Hersfeld und schließlich ab 10 Uhr nach Hannoversch Münden in Südniedersachsen. Viele Neonazi in Reisebussen - darunter auch der NPD-Vorsitzende Udo Voigt – wurden auf den Autobahnen von der Polizei festgehalten (nach NPD-Angaben wurden 20 von insgesamt 30 NPD-Bussen von der Polizei aufgehalten). Circa 300 Neonazis aus dem bundesweiten Spektrum der „Unabhängigen Kameradschaften“ unter Führung von Steffen Hupka  sowie des Bielefelder Neonazikaders Meinhard Otto Elbing (Ex-NF) und Bernd Stehmann (Ex-GdNF) versammelten sich auf dem Rathausplatz der Kleinstadt.

Der DGB »verzichtete« wegen zahlenmäßiger Unterlegenheit deshalb auf seine Kundgebung auf dem Rathausplatz und wich ins Gewerkschaftshaus aus. Zu diesem Zeitpunkt waren in Hannoversch Münden – trotz Vorwarnung aus dem Polizeipräsidium Kassel - nur ca. 15 Polizeibeamte im Einsatz. Sie versuchten vergeblich, eine Ansprache von Steffen Hupka an die versammelten Neonazis zu verhindern. Nach dem Ende der Neonazikundgebung zogen ca. 50 Neonazis aus  Detmold, Bielefeld und Gütersloh zu ihren Autos. Dort wurden ihre Personalien von einem mittlerweile eingetroffenen Sondereinsatzkommando (SEK) kontrolliert. Die Bremer Neonazis Tanja B. und Michael Kurzeja ließen sich mit dem Transparent mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ fotografieren. Der Lübecker Neonazi Ulrich Schwetasch trug ein Transparent mit der Aufschrift „Nationaler Sozialismus“. Ein anderer Teil der Neonazis wurde von etwa 50 AntifaschistInnen angegriffen. Die Neonazis flüchteten daraufhin aus dem Innenstadtbereich über eine Brücke auf eine Halbinsel zwischen Fulda und Wem (wo auch ein Großteil ihrer Busse und Autos geparkt war). Zwei Antifaschisten konnten sich nur durch einen Sprung in die Werra vor dem Neonazimob retten. Zahlreiche mit Zaunlatten bewaffnete Neonazis versuchten, über die Brücke zurückzustürmen. Dort wurden sie zunächst von zehn Polizeibeamten aufgehalten, die kurze Zeit später von SEK'lern verstärkt wurden. Insgesamt nahm die Polizei bis zum Abend des 1. Mai in Hannoversch Münden 119 Neonazis in Gewahrsam. Unter den verhafteten Neonazis befanden sich vor allem Neonazis aus Niedersachsen, Berlin, Sachsen-Anhalt, Bayern, Brandenburg und Schleswig Holstein. Mittlerweile laufen Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruchs, Körperverletzung, Sachbeschädigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.

Am Rande des Geschehens in Hannoversch Münden sprang der umherirrende Neonazibarde Frank Rennicke aus Angst vor AntifaschistInnen in das Schaufenster des Waffengeschäfts »Haus der Sicherheit«, wo er dann von der Polizei festgenommen wurde. Mittlerweile hat Rennicke in einem Artikel im "Thule-Netz" dazu eine Art Presseerklärung veröffentlicht - O-Ton: „Ich weiß nicht, wie ich meinen Kindern eine Polizei als 'Helfer' erklären soll, die fast für meinen Tod verantwortlich gewesen wäre ...“ Rennicke hat Anzeige wegen »versuchten Totschlags, Raubs und Körperverletzung« gegen Unbekannt, sowie diverse Anzeigen gegen einen SPD-Landtagsabgeordneten und die Polizei gestellt.

Rund 120 Neonazis, die in Hannoversch Münden nicht festgenommen worden waren, zogen nachmittags mitsamt dem Leittransparent ins 150 km entfernte Burgdorf weiter. Ihr Aufmarsch wurde erst von der Polizei beendet, als sie noch eine Kundgebung durchführen wollten. Burgdorf gehört neben Celle zu den Neonazihochburgen im Umkreis von Hannover. Militante Neonazis haben schon seit Ende der 1970er Jahre gute Beziehungen nach Hannoversch Münden. Die FAP Niedersachsen hatte schon Anfang der 1990er Jahre unter Führung von Thorsten Heise versucht, am 1. Mai mit 100 Neonazis einen Aufmarsch in Hannoversch Münden durchzuführen.

Kleinere Aufmärsche querbeet

In der sächsischen Kleinstadt Grimma - zwischen Leipzig und Wurzen – führten über 200 Neonazis vor allem aus dem Muldentalkreis unbehelligt von der Polizei schon am Morgen des 1. Mai einen ca. einstündigen, unangemeldeten Aufmarsch und eine Kundgebung durch – mitsamt Leittransparent »Arbeit zuerst für Deutsche«, NPD-Fahnen und Parolen. In Rostock wollten 60 Neonaziskins die DGB-Kundgebung stören. Anschließend versuchten sie, zum Bahnhofsplatz zu marschieren - und landeten im Polizeigewahrsam. Auch 72 Neonazis, die es offenbar nicht mehr rechtzeitig bis nach Hannoversch Münden geschafft hatten und daher in Aisfeld (Hessen) einen unangemeldeten Kurzaufmarsch abhielten, wurden in Polizeigewahrsam genommen. Der Versuch von vier NPD-Bussen, am Nachmittag des Tages vor dem Aschaffenburger Arbeitsamt eine Kundgebung durchzuführen, scheiterte ebenfalls. Sie wurden an der Stadtgrenze von der Polizei abgewiesen, so daß schlußendlich 15 JN-Mitglieder kurz vor dem Arbeitsamt aufmarschierten.

Und in Leipzig ?

An den Zufahrtsstraßen nach Leipzig erhielten nach Polizeiangaben 270 Neonazis und 110 AntifaschistInnen Platzverweise. Am Vormittag wollten rund 50 Neonazis am weiträumig abgeriegelten Völkerschlachtdenkmal einen Aufmarsch durchführen. Als 200 AntifaschistInnen versuchten, zum Denkmal vorzudringen, um die Neonazis am Marschieren zu hindern, wurden sie von der Polizei eingekesselt. Nach Angaben des BgR wurden im Laufe des Tages rund 150 AntifaschistInnen und 50 Neonazis in Leipzig festgenommen. Bei den Neonazis, die versuchten, nach Leipzig zu kommen und dort zu marschieren, handelte es sich wohl vor allem um unorganisierte Neonaziskins aus dem „Osten“. Allerdings wurden auch NPD- Führungskader am Völkerschlachtsdenkmal gesehen. Als einer der NPD-Koordinatoren in Leipzig soll laut Szene-Insidern der seit langem aktive Dirk Zimmermann (Ex-FAP) in Erscheinung getreten sein.

Versuch einer Einschätzung

Die NPD und JN haben am 1. Mai in den Augen der »unorganisierten« Neonaziskins und des »unabhängigen Kameradschaften« auf jeden Fall eine Schlappe erlitten. Ihr großartiges Getöse im Vorfeld und der klägliche Versuch, den 1. Mai im Nachhinein als Erfolg (angeblich hätten sich 4.000 Neonazis auf Deutschlands Straßen befunden) darzustellen - so lautete etwa die Überschrift der JN-Presseerklärung von Klaus Beier (Pressesprecher der JN aus Miltenberg) am 2. Mai: »1.Mai – bundesweite Demonstrationen des nationalen Widerstands erfolgreich durchgesetzt!« - haben dem Führungsanspruch der JN/NPD innerhalb des Neonazispektrums auf jeden Fall Schaden zugefügt. Das wird auch aus einem internen Brief des Hamburger Neonazifunktionärs Thomas Wulff deutlich: »Ich rief den Vorsitzenden Voigt noch zwei Tage vor der Demo privat an, um ihn nochmals zu fragen und mir versichern zu lassen, daß, es eine Ausweichplanung gibt. Wir sprachen zwar nicht über Einzelheiten, aber er bestätigte mir, daß es eine Ausweichplanung gibt. Ich konnte mich wie so viele Kameraden nur darauf verlassen. (…) Tatsächlich war erkennbar keine Ausweichplanung vorgesehen, geschweige denn eine Ersatzdemo angemeldet. (...) Das Argument, dann hätte man die Leipzigdemo gefährdet, trifft wohl nur zu, wenn es einem nicht vorrangig um die Durchführung der 1. Mai-Demo der Nationalen Opposition ging, sondern in erster Linie um die öffentliche Darstellung der NPD/JN (...).« Thomas Wulff kritisiert die »mangelnde Bereitschaft« der JN, auch »in brenzligen und rechtlich ungünstigen Situationen die vorher so vehement beanspruchten Führungspositionen zu besetzen«. Seine Schlußfolgerung: »Auch wenn es der NPD/JN-Führung nicht gefällt, so hat dieser Tag bewiesen, daß die NPD von einem Führungsanspruch noch weit entfernt ist.«

Mit dem Aufmarsch in Hannoversch Münden wurde wieder einmal deutlich, daß das Spektrum der »Unabhängigen Kameradschaften« am besten koordiniert und fast immer handlungsfähig ist. Es ist davon auszugehen, daß die ehemaligen Kader inzwischen verbotener Neonazigruppierungen, die sich wie Steffen Hupka mittlerweile in die Führungsriege der JN begeben haben, weiterhin auf zwei Hochzeiten tanzen werden: Sowohl eine enge Zusammenarbeit mit den »Unabhängigen Kameradschaften«, als auch die JN zu einer militanten Neonazikaderschmiede mit Führungsanspruch zu verwandeln. Es bleibt zu hoffen, daß die Egos der selbsternannten »nationalen Führer«, die Führungsstreitigkeiten und Grabenkämpfe zwischen dem NS-Flügel und den »Nationalrevolutionären« auch bei weiteren Anlässen einer guten Koordination innerhalb des Neonazispektrums im Wege stehen werden.

Einige kurze Gedanken zur Antifa-Mobilisierung

Viele AntifaschistInnen, vor allem aus dem Westteil Deutschlands, wurden auf den Autobahnen von der Polizei entweder stundenlang festgehalten oder mit Durchsuchungen etc. schikaniert. Andererseits haben viele Neonazis den antifaschistischen Zorn sehr direkt zu spüren bekommen oder auch indirekt, wenn sie mit der Bundesbahn nach Leipzig unterwegs waren durch drei Oberleitungsanschläge in Berlin, die laut Pressemeldungen von „Autonomen“ verübt wurden, um den Aufmarsch in Leipzig zu behindern. Allerdings drängt sich die Frage auf, ob nicht mehr Gewicht auf regionale Mobilisierungen gelegt werden müßte. Im Fall von Leipzig muß jedoch ganz klar gesehen werden, daß ohne die bundesweite Antifamobilisierung ein Aufmarsch der JN/NPD in Leipzig nicht verhindert worden wäre und ein zweites München stattgefunden hätte. An dieser Stelle noch einmal ein ausdrückliches Lob an das BgR.

Auch wenn es letztendlich die Gerichte und nicht die AntifaschistInnen waren, die den NPD/JN-Aufmarsch verhindert haben. Die Diskussion darum, ob gerichtliche Verbote sinnvoll sind, soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Ein wichtiges Ergebnis des 1. Mai ist, daß die massenhafte Anziehungskraft der NPD und JN nach München - alleine in Sachsen gab es innerhalb eines Monats einen Mitgliederzuwachs von 200 auf 300 Personen in der NPD - ersteinmal gedämpft wurde.