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Systematische Einzelfälle

Daniel Wölky, Rechtsanwalt
Einleitung

Am 26. Oktober 2005 beging die Bundeswehr ihr 50jähriges Bestehen mit dem sog. Großen Zapfenstreich. Circa 5.000 geladene Gäste kamen zu den Feierlichkeiten mit Fackelmarsch vor dem Reichstag in Berlin zusammen.

Dagegen demonstrierten mehr als 2.000 Personen friedlich unter dem Motto »Zapfenstreich abpfeifen«. Die genehmigte Route sollte vom Alexanderplatz bis zum Pariser Platz/Unter den Linden führen. Dieses war das Ergebnis eines Verwaltungsrechtsstreits, bei welchem der Prozessvertreter des Landes Berlin vom Ordnungspolizeilichen Staatsschutz (LKA 57) die Öffnung des Pariser Platzes um 20 Uhr zusicherte.1

Der Aufzug erreichte die Kreuzung Unter den Linden/Schadowstraße, vor dem Pariser Platz, und wurde durch massive Polizeikräfte und sog. Hamburger Gitter gestoppt. Entgegen der Zusicherung wurde die Sperrung auch nach 20 Uhr fortgesetzt. Gegen 20.15 Uhr sprang plötzlich ein Beamter der behelmten Bereitschaftspolizei über die Gitter, gefolgt von der restlichen Einheit. Unter Knüppelschlägen mehrerer Beamter wurden Teilnehmer der Demonstration zurückgedrängt, obwohl dafür kein Anlass erkennbar war.

Ein Zivilbeamter der Polizei verfolgte das Geschehen hinter einer Reihe von Fotografen. Nachdem sich die Szene etwas beruhigt hatte, stürmte er plötzlich nach vorne, begann Demoteilnehmer zu schubsen, um dann unvermittelt mit seinem Tonfa wahllos auf die vor ihm stehenden Personen einzuschlagen.2 Die »Bild« zählte 18 (!) Schläge.3 Während seiner Angriffe wurde der Beamte von einem zweiten Zivilbeamten unterstützt, der gleichfalls gegen die Demonstranten vorging; die umstehenden Kräfte des 2. Zuges der 15. Einsatzhundertschaft (EHU) griffen nicht ein.4 Die Angriffe hatten zahlreiche Verletzungen zur Folge. Sowohl Straf- als auch Zivilverfahren wurden gegen die Polizisten eingeleitet.5 Der im Fokus der Ermittlungen stehende Beamte Rouven K. soll in einer von vier Gruppen für »Aufklärung/Operative Dienste« des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) bei der Abteilung LKA 63 eingesetzt gewesen sein.6 Nun sei er in den Innendienst versetzt.5 Das Internet-Forum von www.german-police.de gibt Aufschluss darüber, wie die Angelegenheit in Polizeikreisen gesehen wird.7

Unter dem Pseudonym »Bobb« kritisiert ein Berliner Polizist die Vorgehensweise und gibt Ratschläge für ein nächstes Mal: »... ein grader Stoß mit dem kurzen Ende ist nicht auffällig in der Menge und man hat tagelang was davon.« Ein »Jürgen« bringt es auf den Punkt: »Allein schon beim Anblick dieses Demo-Publikums stellen sich mir die Sackhaare auf und das trotz Trainings der eine oder andere Beamte zuschlägt, wundert mich nicht weiter.«


Ein weiteres Mosaikstück in der Gedankenwelt der Polizei zu dieser Sache liefert der ehemalige Landesvorsitzende der Polizeigewerkschaft im Deutschen Beamtenbund Egon Franke. In einem Leserbrief an die BZ schreibt er: »Die Vorverurteilungs-Kampagne ... stinkt einfach zum Himmel. Auch ein Polizeibeamter ... gilt so lange als unschuldig, bis ein Gericht das Gegenteil festgestellt hat, auch wenn es denen, die an der teilweise unfriedlichen Demonstration gegen die Bundeswehr teilgenommen haben, nicht passt.8 « Es handelt sich übrigens um den Egon Franke, der im Zusammenhang mit dem IWF-Gipfel 1988 in Berlin seine Meinung bereits deutlich zum Ausdruck gebracht habe: »Das ganze linke Gesocks solle man insgesamt zusammenknüppeln.9 «

Einzelfälle

Allem Anschein nach gibt es seit Jahren eine signifikante Häufung von Übergriffen durch Berliner Polizeibeamten, insbesondere durch die zehn Einsatzhundertschaften. Nur in einem Bruchteil der Fälle kommt es zur Skandalisierung, wie ein Blick auf den vergangenen Sommer zeigt: Die Nacht des 25./26. Juni 2005 war warm und es fanden zahlreiche Veranstaltungen und Partys in Berlin statt. Mit ca. 200 Beamten räumte die Polizei gewalttätig eine Hofparty im Prenzlauer-Berg. Anwohner beklagten »eine völlig unangemessene Aggressivität der Polizei«10 . In Neukölln wurde eine Party mit Pfefferspray gestürmt. Anwesende Besucher seien misshandelt und dann festgenommen worden.

In derselben Nacht ging die Polizei u.a. mit der 24. EHU gegen eine weitere Neuköllner Party vor und räumte gewalttätig die Wohnung. Anschließend wurden mehrere Personen vor dem Haus festgenommen. Alle Einsätze seien wegen Lärmbelästigung erfolgt. Der Tagesspiegel stellt dazu nüchtern fest: »Seit zwei Jahren stürmen Polizeihundertschaften regelmäßig lautere Events – und es trifft keineswegs nur die ehemals besetzten ... Häuser ... .« Am Morgen des 6. Juli 2005 fanden 15 Hausdurchsuchungen in Berlin, Potsdam und Eisenach statt, die sich gegen Personen der antifaschistischen Szene wegen einer angeblichen Auseinandersetzung mit Rechten richteten. Teilweise wurden die Wohnungs- und Zimmertüren von MEK’s eingeschlagen. Anwesende wurden gefesselt. Ein Unbeteiligter erlitt Schnittwunden.11

Am 21. August 2005 stürmte die Berliner Polizei unter Verstärkung von Sondereinsatzkommandos aus Brandenburg und Niedersachsen die Diskothek »Jeton« in Friedrichshain. Die Maßnahme sei zur Gefahrenabwehr vorgenommen worden, denn in der Disko hätten sich Hooligans des BFC Dynamo zur Pokalschlacht gegen Union Berlin »gerüstet«, so die Begründung, obwohl es sich in Wahrheit um eine Party nach einem durch Fanbeauftragte organisierten Fußballturnier handelte. Mit dem Ruf »Alles auf den Boden, Ihr Fotzen!« seien vermummte Einheiten herein gestürmt.12 Wer nicht schnell genug auf dem Boden war, sei niedergeprügelt worden. Nach Polizeiangaben wurden 158 Personen festgenommen und 39 verletzt. Die Polizei rechtfertigte ihr brutales Vorgehen zunächst mit massiver Gegenwehr der Diskobesucher, musste aber schließlich zugeben, dass es tatsächlich keinerlei Widerstand gab.

In der Nacht des 27. August 2005 führten etwa 300 Polizisten in sieben Objekten Durchsuchungen wegen angeblich abgerissener NPD-Plakate bzw. wegen eines vermeintlichen Aufrufes dazu durch. Dabei wurde auch eine Party in Mitte gestürmt und aufgelöst.

Ebenso, wie die Berliner Polizei bereits bei vorangegangenen Einsätzen gegen Castor-Proteste im Wendland wegen ihres brutalen Vorgehens in der Kritik stand, schaffte sie es auch bei dem Transport vom 21./22. Oktober 2005. Ein Bereitschaftspolizist der 24. EHU aus Berlin schlug einem anderen Polizisten, der als Konfliktmanager eingesetzt war, gezielt mit der Faust ins Gesicht, als dieser sich über das Vorgehen beschwerte. Er habe sich bedroht gefühlt, so der Beamte. Anschließend versuchten die Beamten, sich gegenseitig festzunehmen.

Anfang Dezember 2005 fand das Berufungsverfahren gegen C. statt, der wegen Landfriedensbruchs u.a. zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten, die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt wurde. Im Jahre 2001 sei C. einige Stunden nach der 1. Mai-Demonstration von Beamten des LKA 5 (Polizeilicher Staatsschutz) festgenommen, in einen zivilen VW-Bus verschleppt und an einen unbekannten Ort gefahren worden. Dort sei er zusammengeschlagen und beschimpft worden. Er habe mehrere Rippenbrüche und Prellungen am ganzen Körper erlitten. Gegen C. wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Das Verfahren gegen die Polizisten gelangte dagegen nicht zur Anklage.

Serie von Einzelfällen

Sobald es Kritik an brutalen Einsätzen hagelt, plädieren die Verantwortlichen reflexartig auf »Notwehr«. Die Beschuldigten Polizeibeamten stellen – soweit noch nicht geschehen – Anzeige wegen Widerstands oder anderer Delikte. Und erst, wenn nichts mehr zu retten ist, wird der Beamte möglichst öffentlichkeitswirksam fallengelassen. Dieses Verhaltensmuster ist allen oben vorgestellten Fällen gemein.

In den vergangenen Jahren ist eine erhebliche Brutalisierung polizeilicher Einsätze vorgenommen worden. Zugleich gehen die registrierten Körperverletzungen im Amt laut Statistik stark zurück: Waren es 2003 noch 713 Fälle, so sank die Zahl im Jahre 2004 auf 675 Fälle.13 Bis September 2005 wurden nur 404 Fälle registriert.6 Die rückläufigen Fälle dürften jedoch kaum an einer Befriedung der Amtsträger als vielmehr einem veränderten Anzeigeverhalten liegen.

Die polizeiliche Einschüchterungsstrategie gilt allen Personen, welche als Unruhestifter verstanden werden. In erster Linie werden darunter – alten Traditionen folgend – Linke subsumiert. Im Zuge der anstehenden Fußballweltmeisterschaft weitet sich dieses auch auf Hooligans aus, die mindestens seit der WM 1998 und den Vorfällen von Lens/Frankreich als Testballon für freiheitsbeschränkende Maßnahmen (bsplw. Ausreiseverbote) herhalten müssen. Die These einer regelrechten Einschüchterungsstrategie, wird nicht zuletzt dadurch untermauert, dass die Polizei der Presse ermöglicht, ihre Opfer in menschenverachtender Bloßstellung der Öffentlichkeit zu präsentieren. So geschehen bei der Räumung der Yorckstrasse 59 am 6. Juni 2005, einer spontanen Solidaritätsdemonstration nach den Durchsuchungen vom 6. Juli 2005, dem »Jeton« am 21. August 2005 etc.

Die Strategie scheint doppelt aufzugehen. Denn durch die Brutalisierung wird eine Desensibilisierung der Wahrnehmung polizeilicher Maßnahmen herbeigeführt und das bürgerliche Spektrum davongejagt. Der Desensibilisierungseffekt ist mit den permanenten polizeilichen Filmaufnahmen bei Demonstrationen vergleichbar. Wäre noch vor einigen Jahren ein Aufschrei durch die Gesellschaft gegangen, wird das ständige Filmen heute als normal empfunden. Zwar ist es grundsätzlich rechtlich einwandfrei, dass Übersichtsaufnahmen anlassunabhängig getätigt werden dürfen, allerdings nicht, wie heute üblich, mit Digitalkameras. Denn damit können auch nachträglich unproblematisch Portraitaufnahmen hergestellt werden.

Und ebenso normal wird es empfunden, wenn eine Demonstration, ohne erkennbaren Anlass von der Polizei mit gezücktem Tonfa attackiert wird. Und weil es eben als normal gilt, wird kein Gedanke mehr an eine Empörung und eventuelle juristische Schritte verschwendet. Das wiederum hat einzig eine erneute Spielraumerweiterung zugunsten der Polizei zur Folge. Zudem schrecken die mit erschreckender Brutalität durchgeführten Einsätze in erheblichem Maße von der Teilnahme an Demonstrationen ab. Dieses hat zur Folge, dass Personen aus dem bürgerlichen Spektrum nur noch selten daran teilnehmen. Je weniger bürgerliche Öffentlichkeit direkt von den Polizeiaktionen betroffen ist, desto seltener führt dieses zu öffentlichem Protest. Es entsteht ein regelrechter Teufelskreis, der nur dem polizeilichen Vorgehen nutzt. Zu einer Skandalisierung mit juristischen Konsequenzen kommt es nämlich eigentlich nur, wenn Personen des bürgerlichen Spektrums oder Pressevertreter angegriffen werden, die noch nicht vollkommen desensibilisiert sind und sich dann gegen die Angriffe zur Wehr setzen.