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„Russischer Marsch“ mit Schwierigkeiten

Karl-Heinz Kreuzer (Sechel Blog)
Einleitung

Nur 300 bis 400 RassistInnen und NationalistInnen nahmen am 4. November 2017 am „Russischen Marsch“ teil. Die Neonazi-Demonstration, die jedes Jahr zum offiziellen russischen Nationalfeiertag stattfindet, soll im Jahr 2017 laut den Veranstalter_innen der „schwierigste Marsch der Geschichte“ gewesen sein. Organisator Иван Сергеевич (Ivan Beletskij) beklagt Repressionen von Polizei und Geheimdiensten im Vorfeld.

Foto: Sechel Blog

Mitorganisator Konstantin Filin (PN) wird von der Polizei abgeführt

Wer am 4. November 2017 durch die Hochhaussiedlungen im Moskauer Außenbezirk Ljublino spazierte, wurde wahrscheinlich durch polizeiliche Absperrgitter rund um die Hauptstraße auf den „Russischen Marsch“ aufmerksam. Wie in Russland nahezu an allen öffentlichen Orten üblich, mussten die Teilnehmenden der rechten Versammlung zunächst stehende Metalldetektoren passieren, um auf die Versammlungsfläche zu gelangen.

Doch längst nicht alle, die für ein „weißes Russland“ demonstrieren wollten, kamen überhaupt so weit. Bereits auf dem Weg zur Demonstration wurden Neonazis von der Polizei festgenommen. Laut Polizei handelte es sich um 30 Festnahmen. Die „Partija Natsionalistov“ (PN), die den „Russischen Marsch“ mitveranstaltete, sprach später in einer 1 von „ungefähr 100 festgenommenen“ Personen. Bereits im Vorfeld hatte sich der der Co-Vorsitzen­de der „PN“ Ivan Beletskij darüber beklagt, dass die Behörden die Sperrung seines YouTube-Kanals für russische IP-Adressen veranlasst hatten.

Von denjenigen, die tatsächlich den Auf­taktort erreichten, wollten sich augenscheinlich nicht alle den Vorkontrollen unterziehen. Über 50 AnhängerInnen nationalistischer Ideologie blieben lieber außer­halb der Polizeigitter und konnten, ohne von der Staatsgewalt behelligt zu werden, die Demonstration von der anderen Seite der Absperrung begleiten. Die anderen 300 Personen — ungefähr 90 Prozent davon Männer — sammelten sich hinter einer ersten Reihe mit orthodoxen Fahnen, die niemand geringeren als Jesus Christus abbildeten. Dahinter sammelten sich die üblichen schwarz-weiß-gelben Flaggen der Romanov-Dynastie und diverse andere Fahnen mit rechter Symbolik. Eine Fahne, die einen mit einem Schwert gekreuzten Hammer2 abbildete, schaffte es nicht durch die Vorkontrollen. Überdies waren zwei Fahnen der „Novaja Oppositsia“ („Neue Opposition“) zu beobachten. Die Neue Opposition steht für ein Bündnis von Akti­visten verschiedener nationalistischer, neonazistischer und liberaler Gruppierungen, an dem sowohl Beletskij, als auch Вячеслав Мальцев (Wjatscheslaw Maltsew), der Anführer der neonazistischen "Артподготовка" („Artpodgotovka“-Bewegung)3 beteiligt ist.

Begleitet von Sprechchören wie „Ehre für Russland“ setzte sich der Aufzug in Bewegung. Ein Ergebnis der Abwesenheit jeglichen antifaschistischen oder zivilgesellschaftlichen Gegenprotests: viele Anwohner_innen verfolgten die Demonstrationen aufmerksam vom Straßenrand. Einige Dutzend liefen sogar an der Seite mit, um das Geschehen zu beobachten. Da die Umgebung der Demonstrationsroute nicht abgesperrt wurde — wie es sonst vielfach üblich ist, um Gegenproteste fernzuhalten — war es problemlos möglich, von allen Seiten nah an die Versammlung heranzukommen. So konnten ihre Inhalte als unwidersprochener Teil der öffentlichen Debatte am russischen Nationalfeiertag wahr­genommen werden — wenn auch viele Kilo­meter von der Innenstadt entfernt und unter massiven polizeilichen Einschränkungen. Als der Aufzug in einen Kreisverkehr bog, griffen Polizisten unvermittelt zu und zogen Konstantin Filin von der „PN“, einen Mitorganisator des „Marsches“, aus der Menge und führten ihn ab. Die Demons­trierenden reagierten nicht darauf und setzten ihren Aufzug ohne jegliches Zeichen von Protest fort. Laut „PN“ soll sich Filin danach 15 Tagen im Arrest befunden haben.

Nach einer eher relativ kurzen Strecke von ungefähr 2.000 Metern erreichte die Demonstration schon ihren Abschlussort. Auf einer bereits aufgebauten Bühne im Stadtteil Marino sprachen noch mehrere Redner der „PN“ und anderer Gruppierungen zu den wenigen Teilnehmenden, bevor die Veranstaltung beendet wurde.

Während die rechten Gegner_innen der Putin-Regierung in dezimierter Zahl am Stadtrand demonstrierten, hatten in der Moskauer Innenstadt die offiziellen Feierlichkeiten längst begonnen. An drei zentralen Plätzen im Zentrum waren Bühnen und Stände aufgebaut, an denen sich die BürgerInnen unter dem Motto „Wir vereint!“ vergnügen sollten. Der 4. November ist der „Tag der Einheit des Volkes“. Er soll an den russischen Sieg über das polnisch-­litauische Imperium im 17. Jahrhundert erinnern. Dieser leitete den Beginn der Romanow-Dynastie ein. Nationalfeiertag ist der 4. November erst (wieder) seit 2005. Die Putin-Regierung und rechte Kräfte im Parlament wollten sich auf diese Weise dem unliebsamen 7. November, dem Jahrestag der Oktoberrevolution, entledigen.

Obwohl die Neonazis auf russisch-imperiale Symbolik setzen und hinter orthodoxen Fahnen laufen, sind sie politisch mit der Putin-Regierung fundamental im Dissens. Eine Differenz ist sicher die Beliebigkeit, mit der Putin zwischen der Betonung von Russlands multi-ethnischem Charakter und der Rhetorik von Russland als orthodoxem, slawischem Staat variiert. Letztere drückt sich unter anderem in der überdimensionierten Statue von Wladimir I. aus, die Putin in unmittelbarer Kreml-Nähe in Moskau errichten ließ. Wladimir, einer der Fürsten der Kiewer Rus4 4, hatte maßgeblich zur Christianisierung der Rus beigetragen. Das habe laut Putin „den Weg gebahnt zu einem starken, zentralisierten russischen Staat“.

Doch einigen scheint der, zumindest seiner Bevölkerung nach, multi-ethnische russische Staat der Gegenwart nicht weiß genug zu sein. Nachdem die Demonstration der „PN“ am 4. November vergleichsweise klein ausfiel, wurden am Folgetag zwischen 200 und 400 Personen — darunter viele Unbeteiligte — auf dem Roten Platz festgenommen. Die Polizei wollte eine Versammlung der Bewegung „Artpodgotovka“ verhindern, die dazu aufgerufen hatte, eine Revolution auszulösen und Putin zu stürzen.

Aber nicht nur gegen sie wurde vorgegangen: Am 10. November wurde laut Angaben der „PN“ deren Parteibüro Objekt einer polizeilichen Hausdurchsuchung. Die bereits im Vorfeld ausgeübte staatliche Repression sowie die geplante Provokation auf dem Roten Platz am Folgetag dürften dann auch zu der geringen Teilnehmendenzahl5 am 4. November beigetragen haben. In der Wochenzeitung „Jungle World“ benennt Ute Weinmann6 daneben zwei weitere Gründe, die zur Dezimierung des nationalistischen Aufmarsches beigetragen haben könnten: massive Spaltungen innerhalb der Bewegung und der Abzug einiger Aktivist_innen zu Kämpfen in den Donbass.

Der im unbekannten Ausland befindliche Ivan Beletskij hat in seiner abschließenden Stellungnahme zum „Russischen Marsch“ angekündigt, Wjatscheslaw Maltsew und Алексей Навальный (Alexej Nawalny) unterstützen zu wollen. Nawalny von der "Партия Прогресса" ("Fortschrittspartei") will bei den Präsidentschaftswahlen 2018 gegen Putin antreten. Er gilt als Kandidat des liberalen Spektrums, ist aber auch immer wieder durch rassistische Rhetorik aufgefallen. Wegen seiner Unterstützung des „Russischen Marsches“ flog er bereits vor Jahren aus der liberalen Partei "Яблоко" („Jabloko“).

Das Zusammenwirken liberaler und nationalistischer Opposition stellt in Russland keine Ausnahme dar. Erst im Mai dieses Jahres waren Liberale und extrem Rechte in Moskau gemeinsam gegen Repression auf die Straße gegangen. Auch wenn das neonazistische Spektrum mit großen Problemen zu kämpfen hat: Die gegenwärtige politische Lage in Russland ist aus antifaschistischer Perspektive alles andere als hoffnungsvoll. Nationalistische, kulturalistische und rassistische Positionen sind sowohl bei den Unterstützer_innen als auch unter Gegner_innen der Regierung hegemonial.