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Das Phänomen „Thin Blue Line“

René Odenthal (@pulsfeuer) (Gastbeitrag)
Einleitung

Dieser Artikel dient nicht dazu, konkret den Ursprung jeglichen polizeilichen Fehlverhaltens aufzuzeigen, sondern soll schlichtweg einen Einblick in Bewegungen geben, die um den Polizeiberuf herum, und oft aus diesem heraus, entstanden sind. Dazu gehört besonders das Phänomen der „Thin Blue Line“. Ursprünglich eine Anlehnung an den Krimkrieg 1854, als ein britisch-schottisches Infanterieregiment mit der Bezeichnung der „Thin Red Line“ den Einfall durch die russische Kavallerie verhinderte.

Foto: Chad Davis; flickr.com; CC BY-NC 2.0

Das erste Mal tauchte die „Thin Blue Line“ 1911 in Form eines Gedichts von Nels Dickmann Anderson auf, bei der die Phrase als Verbundenheitsmerkmal der US-Armee herangezogen wurde. Auch der New Yorker Polizeichef von 1922 soll die Phrase mal in Verbindung mit der Polizei genutzt haben, ehe sie für die kommenden 28 Jahre in der Versenkung verschwand. Erst richtig bekannt wurde sie, als sie in den 1950ern vom LAPD-Officer William Henry Parker, dem damaligen Polizeichef von Los Angeles, erneut ausgegraben und immer wieder in seinen Reden eingebaut wurde und später dazu beitrug, dass eine gleichnamige TV-Serie entstand, die vom LAPD selbst produziert wurde. Dabei diente die „Thin Blue Line“ hauptsächlich dazu, das Ansehen des LAPD innerhalb der Bevölkerung zuerhöhen. Hierfür erklärte Parker  immer wieder, dass die „Thin Ble Line“ die letzte Bastion oder Grenze zwischen der zivilgesetzlichen-/gesellschaftlichen Ordnung und der chaotisch gewalttätigen Anarchie sei.

Parker selbst ist kein unbeschriebenes Blatt. Er bekannte sich noch vor seiner Zeit beim LAPD zur Legitimierung von Lynchfolter, war äußerst bekannt für seine rassistischen Reden und Tiraden gegen Minderheiten und gab während seiner Zeit als Leiter den Befehl, keine weiteren schwarzen Polizisten:innen einzustellen und verbat jenen, die bereits eingestellt waren, weiße Partner:innen zu haben. Er war stets für die strikte Trennung von Weißen und Schwarzen, was den Nachteil für Schwarze mit sich brachte, dass auch nur sie in gefährlicheren Bezirken Patrouille gehen und fahren mussten bzw. in gefährlichen Einsätzen vorgeschickt wurden. Zudem wurde festgehalten, dass während Parkers Zeit als Leiter des LAPD nicht ein einziges rassistisches Vergehen gegenüber Minderheiten geahndet wurde. Es gab auch keinerlei interne Dokumentation oder Aufarbeitung polizeilichen Fehlverhaltens, was vor allem bei der weißen Bevölkerung gut ankam, schließlich konnte man sich auf eine makellose Polizei berufen, die über jeden Zweifel erhaben war.

Weitere Bekanntheit erhielt die Phrase im Gerichtsfall von Randall Adams 1979, dem vorgeworfen worden war, den Dallas Polizisten Robert Wood umgebracht zu haben. Der Richter ließ sich von einer romantisierenden Rede über die „Thin Blue Line“ und wie eben diese die letzte Grenze zwischen der zivilgesellschaftlichen Ordnung und dem anarchistischen Abgrund sei, beeinflussen, was nicht zuletzt dazu führte, dass Randall Adams zu Unrecht zum Tode verurteilt wurde. Auch wenn später das Urteil verworfen wurde, erhielt Adams keinerlei Wiedergutmachung vom Staat Texas.

„Thin Blue Line“ und ihre internationale Verbreitung

Mittlerweile hat es die „TBL“ auch in andere Staaten geschafft. Zunächst fasste sie Fuß in Australien, Großbritannien, Hong Kong, später Canada und Frankreich. Seit ungefähr zwei Jahrzehnten macht sie auch in Deutschland und Österreich die Runde, aber auch in anderen Staaten der EU. Dabei verweisen jene, die zur Phrase stehen, immer wieder auf das Zeichen der Verbundenheit – oder wie die Pressesprecherin der Polizei Berlin im Artikel „Schmale Linie zu den Rechten“ der TAZ sagte: „Für viele steht das Zeichen auch einfach für ihre bürgernahe Berufsauffassung und das Gedenken an im Dienst verstorbene Kolleginnen und Kollegen.“ Was von der Pressesprecherin als „[…] Zeichen für bürgernahe Berufsauffassung und an das Gedenken an im Dienst verstorbene […]“ schön verpackt wird, ist aber zumeist nichts weiter als eine Verstärkung des Einheitsgefühls untereinander und zu anderen Einheiten – auch zu solchen im Ausland.

Man beachtet sich zunehmend als ein eigenständiger Teil der Gesellschaft, der dieser übergeordnet ist und für den andere Regeln gelten. Das lässt sich vor allem daher ableiten, dass unsere Polizeiverbände, die sich gerne als Gewerkschaften titulieren, nach wie vor Ersatzleistungen für Beamte zur Verfügung stellen, die auf Grund von grob oder gar vorsätzlich fahrlässigen Handelns mittels eines Disziplinarverfahrens in Regress genommen wurden. Ja, das heißt, Beamte:innen die grob fahrlässig etwas beschädigen oder einer Person Schaden zufügen und anschließend dafür „bestraft“ bzw. „diszipliniert“ werden sollen, erhalt – bis auf die Versetzung und anderweitige interne Konsequenzen – keinerlei finanziellen Schaden, da der einbehaltene Teil des laufenden Einkommens durch den Dienstherr, schlichtweg ausgeglichen wird. Hierzu hilft vor allem ein Blick in den Leistungskatalog dieser „Gewerkschaften“.

Im Zusammenhang mit der „Thin Blue Line“ steht auch die „Blue Wall of Silence“, die ein ungeschriebenes Gesetz des Schweigens unter Polizisten darstellt und dazu dient, polizeiliches Fehlverhalten zu vertuschen oder völlig intransparent, also „untereinander“ bzw. „intern“, aufzuarbeiten. Dazu gibt es einen guten juristischen Artikel von Ann Hodges und Justin Pugh unter dem Titel „Crossing the Thin Blue Line: Protecting Law Enforcnement Officers Who Blow the Whistle“.

Und auch hierzulande bewundert man die Kollegen von Übersee so sehr, dass man ihnen möglichst viel nachmachen möchte. So hat man in den sozialen Medien das Hashtag #Polizeifamilie für sich geschaffen, um möglichst schnell auf Kritiken reagieren zu können, indem man – ungeachtet der Faktenlage – stets zum Nachteil der Opfer / Betroffenen von Polizeigewalt bzw. -brutalität agitiert und das eiserne Band unter Polizisten:innen nach Außen verdeutlicht.

Unterschwellige Drohungen von einigen Polizisten:innen im Netz sind gewiss keine Seltenheit, meist begleitet von Unterstützung durch Rechte und Rechtsextreme, die sich unwidersprochen dem Diskurs anschließen dürfen. Zivile Anhänger:innen und Vertreter:innen der „Thin Blue Line“ sind, ebenso wie in den Staaten, meistens Angehörige von Polizisten, konservative Politiker und Parteien und rechte, extrem rechte bis hin zu rechtsterroristischen Gruppen, darunter auch solche wie „QAnon“, die vor allem besonders gläubige und für Verschwörungsmythen anfällige Christen anzieht, aber eben auch sozial schwache Weiße, welche die Schuld and ihrer Situation stets der Anwesenheit von Migranten und vermeintlichen Kommunisten bzw. Marxisten in der Regierung andichten.

Eine besondere Gewichtung der „Thin Blue Line“ konnte man am 6. Januar 2021 in den Vereinigten Staaten beobachten, als unter den Massen der Trumpisten, die das Capitol stürmten, auch außerordentlich viele ehemalige Soldaten:innen und Polizisten:innen, aber auch Aktive und ihre Familien waren. Und selbst innerhalb der zuständigen Polizei des Capitols waren sogenannte „TBL“ oder „Blue Lives Matter“-Anhänger:innen, die bewusst den Aufrührern:innen einen Zugang ermöglichten. Gerade in Anbetracht dessen, was dort geschah, sollte man sich vor Augen führen, dass wir hier in Deutschland seit geraumer Zeit äußerst viele Fälle von Rechtsextremismus innerhalb der Polizei feststellen durften und viele Beamte:innen ihre Verbundenheit mittels der „TBL“ zur Schau stellen, gar dazu bereit sind gegen Vorschriften zu verstoßen, um es an ihrer Dienstkleidung mittels privater Patches gut erkennbar darzustellen.

Selbstverständlich kennen nicht alle Cops den Hintergrund der „TBL“ und klatschen so einen Patch schlichtweg aus Gruppenzwang an die Weste, aber dennoch müssen wir uns eingestehen – gerade im Hinblick auf verschwundene Waffen, Sprengstofffunde und entwendeter Munition durch Polizisten – dass unter den über 215.000 Polizisten durchaus auch tausende uniformierte Beamte:innen und Angestellte:innen dabei sind, die ein terroristisches Potenzial mit sich herumtragen und somit eine sehr reale Gefahr für unsere Gesellschaft darstellen.

Die nicht vorhandene Fehlerkultur unserer Polizeien und die Weigerungshaltung sowie totale Intransparenz unserer Innenminister bei dem Thema machen es weder besser, noch schafft es Vertrauen bei der Bevölkerung. Wir brauchen schnellstens eine Reform und unabhängige Kontrollinstanzen.