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Sozial und Rechts? - Ein Situationsbericht aus Ostdeutschland

Angelo Lucifero (Gastbeitrag)
Einleitung

Angelo Lucifero arbeitet seit Jahren als antifaschistisch engagierter Gewerkschafter in Thüringen. In seinem Gastbeitrag für das AIB beschreibt er die Situation in Thüringen und anderen ostdeutschen Ländern in Bezug auf die Versuche der (extremen) Rechten, die soziale Frage zu besetzen. Sein besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Verhalten und den Antworten der Gewerkschaften auf dieses Ansinnen der Rechten.

Symbolbild von Christian Ditsch

Seit etwa einem Jahr haben sich die Rechten die soziale Frage stärker auf die Fahnen geschrieben. In Thüringen versuchten bereits im Frühjahr 1998 Ultrarechte um die NPD und die Kameradschaften die Aktionen der Erwerbslosen gegen die Kohl-Regierung für sich zu vereinnahmen. Nicht erst dadurch wurde deutlich, daß sozial und rechts keineswegs ein Widerspruch ist. Im Gegenteil: Wie groß die Chancen der Ultrarechten sind, die soziale Frage für sich zu besetzen, zeigt insbesondere das Wahlverhalten von Gewerkschaftsmitgliedern, die erfahrungsgemäß ein besonderes Interesse für soziale Themen besitzen. Jahrzehntelang haben sich die meisten aktiven GewerkschafterInnen von der Illusion täuschen lassen, daß Gewerkschaftsmitgliedschaft und rechtsextremes Gedankengut sich gegenseitig ausschließen bzw. rechtsextrem orientierte Gewerkschaftsmitglieder nur eine Ausnahmeerscheinung sind. Schon in den achtziger Jahren aber wurde in der gewerkschaftlichen Jugendbildungsarbeit und in entsprechenden Studien festgestellt, daß die »soziale Frage«, also der Kampf um Sozialstaatlichkeit, Arbeits- und Ausbildungsplätze auch von rechts »besetzt« werden kann.

Wie rechts wählen Gewerkschaftsmitglieder?

Eine Infratest dimap-Studie vom August 1998 kommt zu folgendem Ergebnis: »Das Wählerpotential rechtsextremer Parteien in Deutschland umfaßt im Juli/August des Jahres 1998 8 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. (...) Unter Gewerkschaftsmitgliedern umfaßt die Gruppe derer, die sich vorstellen können, eine rechtsradikale Partei zu wählen, sogar 11 Prozent. Mit 7 Prozent sind Wahlberechtigte, die nicht Mitglied einer Gewerkschaft sind, deutlich weniger anfällig für die Parolen radikaler Parteien wie der DVU oder den Republikanern.« Ginge es nach den jungen Gewerkschaftsmitgliedern, so wären die Rechtsextremen am 27. September 1998 in den Bundestag eingezogen.

Im Auftrag der DGB-Zeitschrift »einblick« befragte die Forschungsgruppe Wahlen bei der zurückliegenden Bundestagswahl 25.000 WählerInnen. Rund 20 Prozent von ihnen gehörten einer DGB-Gewerkschaft, DAG, Beamtenbund etc. an. Das Ergebnis ist einerseits erfreulich, weil die Gewerkschaftsmitglieder überdurchschnittlich für eine »andere Politik« gestimmt haben. Andererseits aber wählten 3,9 Prozent von ihnen eine rechtsextreme Partei, während die übrigen WählerInnen »nur« mit 3,3 Prozent für rechts stimmen. Bei den jungen Gewerkschaftsmitgliedern stimmten 13 Prozent für Rechts, im Osten sogar 27 Prozent 1 . Die Gewerkschaften - aber insbesondere die Gewerkschaftsjugend - haben damit ein gewaltiges Problem zu bewältigen. Mit einer überdurchschnittlich rechtsextrem orientierten Basis wollen wir in den Betrieben und Verwaltungen, aber auch gesellschaftlich, Forderungen durchsetzen, die sich dem Prinzip »gleiche Rechte für alle« verpflichtet fühlen.

Ostalgie und soziale Frage als Propagandatriebkräfte der Rechten2

Die Einigungseuphorie der Wendejahre ist schon längst verflogen. Die versprochenen blühenden Landschaften haben sich als verwahrloste Hinterhöfe erwiesen. Je länger die versprochene Wende am Arbeitsmarkt ausbleibt, desto geringer wird das Vertrauen in die Fähigkeit und den Willen der etablierten Parteien, sich des brennenden Problems tatsächlich effektiv anzunehmen. Gerade in einer Zeit der Großen Koalition, wie momentan in Thüringen, verschwimmen dann vorhandene Unterschiede, werden die Parlamentsparteien unterschiedslos zu »denen da oben«.

Dies ist stets die Stunde der Demagogen, derjenigen, die einfache »Lösungen« anbieten. Daß diese »Lösungen« auch zugkräftig sind, wenn die beschriebene Problemlage gar nicht besteht, zeigt das Wahlergebnis der Phantompartei "Deutsche Volksunion" (DVU) in Sachsen-Anhalt vom Frühjahr 1998. Rassistische Hetze in Verbindung mit dem Slogan »Arbeitsplätze für Deutsche« erwies sich als erfolgreich, obwohl die offerierte Lösung Ausländer raus und Deutsche auf deren Arbeitsplätze - selbst bei umfassender Durchführung - gerade in Sachsen-Anhalt keine Besserung erbringen könnte. In Thüringen sieht es nicht anders aus: Den offiziell zugegebenen 24 Prozent Arbeitslosen steht eine Wohnbevölkerung von gut einem Prozent an Menschen ohne deutschen Paß gegenüber, von denen außerdem ein großer Teil gar nicht arbeiten darf (bspw. Asylsuchende) oder kann, weil sie zu jung oder zu alt sind. Knapp 13 Prozent der Wählerinnen und Wähler im Nachbar-Bundesland war dies einerlei. Dabei konnte der Multimillionär und DVU-Chef Gerhard Frey als Unternehmer noch nicht einmal antikapitalistische Demagogie für sich nutzen.

Seine Konkurrenz aber, wie die NPD beispielsweise, tut dies: »Arbeitsplätze für Millionen statt Profit für Millionäre« schreit es von Aufklebern, die ein "Nationaler Widerstand" verbreitet. Auch der NPD-Funktionär Manfred Rempt aus Ilmenau hat die Brauchbarkeit solcher Parolen erkannt. Er könnte sich die Worte seines alten Vorsitzenden aus "Die Republikaner"-Zeiten, Franz Schönhuber, zu Herzen genommen haben: »Ich werde jene Partei wählen, die einen maßvollen Patriotismus mit radikalen sozialen Reformen verbindet. In diesem Zusammenhang muß gefordert werden, daß die Prüfung von Sozialmodellen aus NS-Deutschland oder dem faschistischen Italien hinsichtlich partieller Verwendbarkeit zu Überwindung der Arbeitslosigkeit nicht mehr tabuisiert oder gar strafrechtlich verfolgt wird3 Dieser Linie, die Schönhuber als »Sozialpatriotismus« bezeichnet, versucht Rempt scheinbar auf lokaler Ebene zu folgen. Als im Februar erstmalig in der gesamten Bundesrepublik Arbeitslose in einer konzentierten Aktion ihren Protest sichtbar auf die Straße trugen, versuchte Rempt die örtliche Initiative zu infiltrieren. Neben dem bekannten und berüchtigten Slogan »Arbeit zuerst für Deutsche« wurde unter schwarz-weiß-roten Fahnen auch verkündet: »Sozialismus ist machbar!« Auf den verteilten Flugblättern war die Schuldzuweisung für die Misere im Osten eindeutig: Es geht gegen »die Herren in den Chefetagen, die Milliardenbeträge mühelos durch Spekulationen in ihre Taschen umleiten« und »aus Gründen der Profitmaximierung Arbeitsplätze abbauen oder ins Ausland verlegen«. Gefordert wurden die Beteiligung der Arbeiter am Betriebskapital, ein Verbot der Spekulation und die Einziehung von Spekulationsgewinnen sowie als Höhepunkt gar die Auflösung der Großkonzerne. Daneben soll der Inlandsmarkt durch protektionistische Maßnahmen gestützt werden.

»Soziale« Parolen bei der NPD

Die durch die »soziale Marktwirtschaft« verursachten Enttäuschungen sind so stark, daß eine relevante Zahl von Menschen die Vorzüge des »realexistierenden Sozialismus« wiederentdeckt. Teile der NPD verfolgen nun die Argumentationsvariante, der DDR-Sozialismus sei gescheitert, weil er internationalistisch ausgerichtet gewesen sei. Sozialismus an sich sei gut, aber er müsse national sein. Diese Schlußfolgerung findet auch den Beifall des NS-orientierten Spektrums aus den Neonazi-Gruppierungen. So äußerte der Berliner Neonazi Oliver Schweigert im Interview mit der Neonazi-Publikation "Berlin-Brandenburger Zeitung" (BBZ): »Jede Verbindung des nationalen und sozialistischen Widerstandes zu einer einheitlichen Form ist eine Provokation für die Herrschenden in Bonn. Unsere Aufgabe ist das Nennen der heute nicht nur in Deutschland, sondern europaweit bestehenden und durch die Herrschenden hervorgerufenen Probleme. Dem herrschenden kapitalistischen Wirtschaftssystem muß eine sozialistische Alternative gegenübergestellt und auf den inneren Verfall unseres Volkes müssen nationale Antworten gefunden werden.« In der "Sachsen-Stimme" des sächsischen NPD-Landesverbandes steigert dies die Leipzigerin Ursula Mann, früher beim "Aufbruch '94 - Deutscher Freier Wählerbund" aktiv, noch durch die deutliche Übernahme von alter DDR-Terminologie und linkssektiererischem Jargon. In Bezug auf die Währungsreform von 1948 schreibt sie: »Wichtigstes Ziel dieses Vorhabens war der Erhalt des monopolkapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln. Adenauer und Erhard, die bekanntesten Vertreter des Monopolkapitals, wirkten mit massiver Unterstützung der Besatzungsmächte am Erhalt der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in Westdeutschland und besiegelten damit die ökonomische und politische Spaltung Deutschlands4 Die DDR schneidet im Urteil der NPD-Funktionärin deutlich besser ab: »Die DDR war der zeitweilig von vielen getragene Versuch, Lehren aus der deutschen Geschichte zu ziehen und eine Gesellschaft des Wohlstandes für alle aufzubauen. (...) Nach dem heutigen Vergleich BRD/DDR herrscht die Meinung bei den Mitteldeutschen vor, daß die DDR das kleinere Übel gewesen sei5 Durchaus zutreffend bringt Mann die Stimmungslage und die Erfahrungen weiter Bevölkerungsteile in den neuen Bundesländern zum Ausdruck: »Die den Unternehmerverbänden hörigen Sozialpolitiker haben ein Drittel der Bevölkerung schon als überflüssige Population und sozialen Ballast abgeschrieben6 Man müsse dafür sorgen, daß die Arbeiter zu den Kundgebungen der NPD kommen, gab der NPD-Bundesvorsitzende Udo Voigt im Frühjahr 1998 die Marschrichtung vor. Folgerichtig war eine der Forumsveranstaltungen beim Wahlkongreß der NPD am 7. Februar 1998 in Passau der Wirtschaftspolitik gewidmet.7 Dieses Treffen kann als Auftaktveranstaltung der »neuen sozialen Offensive« der NPD betrachtet werden. Neben dem bayerischen NPD-Funktionär Per Lennart Aae und dem NS-orientierten Österreicher Herbert Schweiger, einem alten SS-Mann, konnte die NPD für das Forum mit Albert Lämmel auch jemanden gewinnen, der die »Abschaffung der Zinsknechtschaft« in einer Spielart der Wirtschaftslehre Silvio Gesells verficht. Besonders wichtig für den neuen programmatischen Kurs dürfte jedoch die Mitwirkung von Reinhold Oberlercher gewesen sein. Der selbsternannte »Nationalmarxist« und angebliche ehemalige SDS-Theoretiker dürfte die Verknüpfung von pseudo-sozialistischer Terminologie mit einem radikalen Nationalismus wohl bisher am weitesten getrieben haben.

Rechter Konsens ...

Der Erfolg der (extremen) Rechten mit derartigen Strategien entsteht weniger durch die Rechten selbst, als vielmehr durch die Politik der Mitte und die daraus folgende Rechtsverschiebung. Die mit Sicherheit falscheste Konsequenz aus der gegenwärtigen Situation ist der Versuch, die (extreme) Rechte rechts überholen zu wollen, was speziell die CSU versucht hat oder die sich abzeichnende Ausländerpolitik der Schröder-Regierung nachzuahmen, die die restriktive Linie von Kanther und Co. fortsetzt. Das Experiment, ein Feuer dadurch zu löschen, indem man einen weiteren Brand legt, ist schon wiederholt schiefgegangen. Gewählt wurde dann in der Regel das Original und nicht die Kopie. Auch den Versuchen des Thüringischen Innenministers, sich durch die Aushöhlung des Demonstrationsrechts sowie die Kriminalisierung von Antifas, AtomkraftgegnerInnen und Flüchtlingsgruppen zu profilieren, dürfte wohl kaum mehr Erfolg beschieden sein. Erfreuen aber tut diese Form des Politikwechsels die NPD und ihre Anhängerschaft, auch wenn es ihnen den Einzug in den Bundestag noch nicht gebracht hat.

... und die Gewerkschaften

Die DGB-Gewerkschaften, in denen knapp 600.000 (Stand 1996) nicht-deutsche Mitglieder organisiert sind und die vielerorts antifaschistische und antirassistische Aktivitäten unterstützen, begreifen erst langsam, daß sie Teil des Problems sind: Sie selbst haben oft mitgewirkt, die soziale Frage national zu definieren. Die Standortlogik sollte im Interesse aller inländischen Beschäftigten (also auch denen ohne deutschen Paß) sein, aber aus der Forderung »Arbeit für Deutschland« wurde schnell die konsequente Fortsetzung »Arbeit für Deutsche«. Wo eben legitimiert wird, daß Rechte teilbar sind, ist auch vorprogrammiert, daß die Kriterien des Ein- und Ausschlusses zur Sicherung der »eigenen« Interessen weiter verschoben werden. Tatsächlich sind auch in vielen Betrieben - früher Hort der Solidarität von AusländerInnen und Deutschen - die Konflikte nicht mehr zu kaschieren, seitdem Massenentlassungen und industrieller Strukturwandel zu allererst auf dem Rücken der ausländischen KollegInnen ausgetragen werden. Die Folge: Der Anteil gewerkschaftlich organisierter Nichtdeutscher nimmt rapide ab.

Die fehlende politische Sensibilität wird auch an anderer Stelle deutlich: In der Ausgabe 6/7 (1998) der Gewerkschaftlichen Monatshefte konnten Autoren publizieren, die rechsoffenen bzw. konservativ-rechten Organisationen nahestehen. Daß mit Wilhelm Hankel8 und Hermann Lübbe9 in einer gewerkschaftlichen Publikation zu Wort kamen, begründete die Redaktion damit, daß es sich um anerkannte Wissenschaftler handle.

Nur wenn AntifaschistInnen und Linke sich darauf besinnen, die soziale Frage internationalistisch zu besetzen und dies sich auch in der Politik der Gewerkschaften niederschlägt, werden die Phrasen der Ultrarechten wirkungslos bleiben. Das bedeutet aber auch, daß mehr passieren muß, als Demonstrationen gegen Neonazizentren. Es bedarf einer inhaltlichen Auseinandersetzung und der Einmischung in die banale Tagespolitik.

  • 1Durchschnitt unter allen Jugendlichen: 6 Prozent im Westen, 13 Prozent im Osten.
  • 2Wesentliche Passagen dieses Abschnittes stammen aus: »Braun ist wieder wählbar« von Angelo Lucifero und Andreas P. Zahleshoff in Karussell Nr. 12/98.
  • 3"Deutsche Wochenzeitung", Februar 1998
  • 4Sachsen-Stimme 1-2/98, Seite 1
  • 5Sachsen-Stimme 1-2/98, Seite 2
  • 6Sachsen-Stimme 1-2/98, Seite 3
  • 7Das Forum wurde vom "Deutsche Stimme" Verlag ausgerichtet und beschäftigte sich mit "nationalistischer Wirtschaftspolitik". Unter Leitung von Per Lennart Aae traten Michael Nier, Reinhold Oberlercher, Albert Lämmel und Herbert Schweiger bei der NPD-Veranstaltung auf.
  • 8Hankel gab Interviews in der rechten Zeitung "Jungen Freiheit" und der "National Zeitung", trat mit Manfred Brunner bei Veranstaltungen der "Aktion rettet die D-Mark" auf und unterzeichnete verschiedene Aurrufe des "Bündnis Konstruktiver Kräfte".
  • 9Hermann Lübbe ist einer der Gründer des "Bund Freiheit der Wissenschaft", einer rechtskonservativen Vereinigung zur Abwehr der Kulturrevolution von 1968. Lübbe verfasste für die Uni Erfurt das Konzept, darin u.a. ein Zentrum für Regionalismusforschung.