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Warum wir über institutionellen Rassismus sprechen müssen

Alexander Bosch Amnesty International (Gastbeitrag)
Einleitung

Fragt man die Bundesregierung und die deutsche Polizei, gibt es in Deutschland keinen institutionellen Rassismus. Kein Mensch wird wegen seiner angenommenen oder tatsächlichen Herkunft oder wegen seines Aussehens von Vertretern des Staates diskriminiert. Dabei werten zahlreiche Menschenrechtsgremien wie die „Europäische Kommission gegen Rassismus und Into­leranz (ECRI)“ oder der „UN-Ausschuss gegen Rassismus (CERD)“ das wiederholte Versagen der deutschen Behörden, bei Straftaten rassistische Tathintergründe zu erkennen sowie zu untersuchen, als Indiz für die Existenz von institutionellem Rassismus innerhalb der deutschen Sicherheitsbehörden.

Foto: Christian Ditsch

Stichworte sind hier das staatliche Versagen im „NSU“-Komplex, das Thema „Racial Profiling“ sowie die Ermittlungen im Fall von Oury Jalloh, der in seiner Gefängniszelle unter bisher ungeklärten Umständen zu Tode kam. Vor allem Selbstorganisationen von Menschen, die von Rassismus betroffen sind, aber auch andere Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen fordern seit Jahren in Deutschland die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus. Trotzdem verweigern Bundesregierung und Polizei die konstruktive Auseinandersetzung mit dem Thema. Durch diese Haltung verletzte die Bundesrepublik außerdem ihre menschenrechtliche Verpflichtung, Menschen effektiv vor rassistischer Diskriminierung zu schützen. Welche dies sind und warum Deutschland diese verletzt, darum soll es in diesem Artikel gehen.  

Menschenrechtliche Pflicht zum Schutz vor Rassismus

Das Grundgesetz sowie Internationale Men­schenrechtsnormen verpflichten die Bundes­republik Deutschland dazu sicherzustellen, dass Schwarze Menschen, People of Colour, Asylsuchende oder Geflüchtete sowie Angehörige anderer Gruppen, die von rassistischer Diskriminierung betroffen sind, nicht durch staatliche Funktionsträger_innen und Institutionen diskriminiert werden. Aber kommt die Bundesrepublik ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen auch nach?

Amnesty International hat am 9. Juni 2016 den Bericht „Leben in Unsicherheit — Wie Deutschland die Opfer rassistischer Gewalt im Stich lässt“1 veröffentlicht. Er dokumentiert auf mehr als 80 Seiten, wie die deutschen Sicherheitsbehörden, insbesondere die deutsche Polizei, dabei versagt, dieser menschenrechtlichen Verpflichtung gerecht zu werden. Um dieser Verpflichtung nachkommen zu können, müssen die Behörden effektivere Instrumente und Mechanismen zur Verhinderung, Untersuchung, Bestrafung und Wiedergutmachung von Unrecht einsetzen, das aufgrund rassistisch motivierten Handelns entstanden ist. Dies beinhaltet auch ausdrücklich die Pflicht der Polizei, rassistisch motivierte Straftaten zu verhindern sowie mögliche diskriminierende Motive zu untersuchen und selbst nicht zu diskriminieren.

Aber fast alle 48 zivilgesellschaftlichen Organisationen, mit denen Amnesty International während der Berichtsrecherchen sprach, äußerten ernsthafte Bedenken angesichts der Einstufung und Untersuchung rassistisch motivierter Straftaten durch die Polizei. Auch in mehreren von Amnesty International im Bericht dokumentierten Fällen zeigte die Polizei einen Mangel an Sorgfalt bei der Erkennung eines möglichen rassistischen Tathintergrunds sowie bei der Untersuchung dieser Straftaten. Deshalb sieht auch Amnesty International deutliche Anzeichen für die Existenz von institutionellem Rassismus innerhalb der deutschen Sicherheitsbehörden, insbesondere bei der Polizei.

Was versteht man unter institutionellem Rassismus ?

Vertreter_innen von Bundesregierung und Polizei negieren das Problem mit der Begründung,  es gäbe keine offizielle Definition des Begriffs „institutioneller Rassismus“. Anderseits verschanzen sie sich auch hinter der Behauptung, mit dem Begriff würden alle Mitarbeiter_innen der Sicherheitsbehörden als  Rassist_innen diffamiert. Doch das ist falsch.  Der Begriff bezeichnet das kollektive Versagen einer Institution, Menschen aufgrund angenommener oder tatsächlicher Kriterien wie „Hautfarbe“, kulturellem Hintergrund oder ethnischer Herkunft angemessen und professionell zu behandeln. Institutioneller Rassismus kann in Abläufen, Einstellungen und Verhaltensweisen sichtbar werden, die durch unbewusste Vorurteile, Nichtwissen, Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotype zu Diskriminierung führen und Menschen benachteiligen. Wenn offen rassistische Einstellungen unter den Mitarbeiter_innen einer Organisation vorkommen, wird auch dies als  institutioneller Rassismus verstanden. Doch dieser kommt auch dort vor, wo die Mitarbeiter_innen keine bewussten rassistischen Einstellungen haben.

Diese Definition geht zurück auf den sogenannten Macpherson-Bericht von 1999, den Ergebnisbericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission in Großbritannien, die das Versagen der Londoner Polizei bei den Ermittlungen zum Mord an dem Schwarzen Jugendlichen Stephen Lawrence am 22. Oktober 1993 analysierte. Eine wichtige Erkenntnis des Macphersons-Berichts ist, dass institutioneller Rassismus sich als Teil des Ethos oder in der Kultur einer Organisation ausbreitet und verankert, wenn er nicht erkannt und keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

Warum von institutionellem Rassismus gesprochen werden muss

Leider gibt es eine deutliche Tendenz der Verharmlosung und Leugnung rassistischer Realität in Deutschland, die das Sprechen über Rassismus in Deutschland so schwierig macht. Weil im postnationalsozialistischen Deutschland nicht sein konnte, was nicht sein durfte, werden allenfalls massive Formen rassistischer Vorkommnisse, wie körperliche Übergriffe, die mit offen rassistischen Beleidigungen einhergehen, als rassistisch motiviert verstanden.

Die Folge: Die deutschen Behörden redu­zieren das Phänomen des Rassismus oft fälschlicherweise im Kontext des Extremismusansatzes auf eine rechte Ideologie sowie das bewusste Handeln von Einzel­täte­r­_innen oder rechten Strukturen. Auch deshalb ist es wichtig noch einmal zu erklären, warum man von institutionellem Rassismus sprechen muss und keine anderen Begriffe benutzen sollte. So wird beispielsweise auch mit den Begriffen institutionelle Diskriminierung oder strukturelle Diskriminierung operiert, um rassistische Ungleichbehandlung oder Diskriminierung zu beschreiben.

Trotzdem sprechen sich die Rassismus-Experten Alisha M. B. Heinemann und Paul Mecheril (2014) für die Verwendung des Begriffs „institutioneller Rassismus“ aus. Nur so könne der natio-ethno-kulturelle Differenzierungsmodus mit seinen Macht- und Herrschaftsverhältnissen ausreichend berücksichtigt und Rassis­mus als das grundlegende gesellschaftliche Ordnungsprinzip in seiner geschichtlichen Dimension (Kontinuität und Transformation) verstanden werden.2 Heinemann und Mecheril bestehen daher darauf, dass das Phänomen rassistische Diskriminierung  unabhängig von allgemeineren Ansätzen zu institutioneller oder struktureller Diskriminierung betrachtet werden muss. Nur wenn rassistische Diskriminierung durch Organisationen auch eindeutig als institutioneller Rassismus bezeichnet werden, kann die spezifische Dimension dieser Diskriminierung sichtbar gemacht werden.

Darüber hinaus hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMRG) festgestellt, dass rassistische Diskriminierung eine besondere Form der Diskriminierung darstellt und eine Gleichsetzung von rassistischer mit nicht rassistisch motivierter Diskriminierung ein wissentliches Ignorieren der spezifischen Art der rassistischen Diskriminierung darstellt. Auch und insbesondere angesichts der gerade im deutschsprachigen Raum vorherrschenden Abwehrreflexe gegenüber dem Rassismusbegriff als Bezeichnung für aktuelle gesellschaftliche Probleme, ist es notwendig das Problem des institutionellen Rassismus auch beim Namen zu nennen und damit sichtbar zu machen. Nur so kann verhindert werden, dass die alltäglichen rassistischen Verhältnisse weiter verharmlost und ignoriert werden.

Unabhängige Untersuchung als erster Schritt zur Problemlösung

Institutioneller Rassismus ist ein Problem in Deutschland. Und solange es von Bundesregierung, Polizei sowie in der gesellschaftlichen Debatte als Problem nicht erkannt und seine Existenz schlichtweg geleugnet wird, können auch keine effektiven Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Es wäre ein Zeichen von Professionalität, wenn sich Bundesregierung und Polizei als potentielle Verursacher_innen gesellschaftlicher Diskriminierung verstehen und ihr Handeln überdenken und neu ausrichten würden. Doch auch die bisherigen „NSU“-Untersuchungsausschüsse auf Bundes- sowie Landesebene haben institutionellen Rassismus als Ursache für das staatliche Versagen im „NSU“-Komplex ausgeblendet. Ein erster und zwingend notwendiger Schritt wäre es daher, unabhängig untersuchen zu lassen, inwieweit institutioneller Rassismus in den deutschen Sicherheitsbehörden eine Rolle spielt. Nur wenn man das Problem erkennt und beim Namen nennt, kann man etwas dagegen unternehmen.

Solange dieser Schritt ausbleibt, wird sich an dem grundsätzlichen Problem des institutionellen Rassismus in Deutschland wenig ändern und Deutschland verletzt weiter seine menschenrechtliche Verpflichtung, Menschen vor rassistischer Gewalt zu schützen.

(Der Autor Alexander Bosch ist Referent für die Themen Polizei und Rassismus bei Amnesty International)

  • 1Amnesty International: „Leben in Unsicherheit – Wie Deutschland die Opfer rassistischer Gewalt im Stich lässt“, online auf www.amnesty.de
  • 2Vgl.: Heinemann, A. & Mecheril, P. (2014): Institutioneller Rassismus als Analyseperspektive. Zwei Argumente, in: Alles im weißen Bereich? Institutioneller Rassismus in Sachsen. (Hrsg.) Weiterdenken — Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen e. V. und Antidiskriminierungsbüro Sachsen. Union-Druckerei Dresden.