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Zur Geschichte migrantischer Selbstorganisierung -Teil 1

Massimo Perinelli
Einleitung

Zur Geschichte migrantischer Selbstorganisierung. Teil 1: Hier betrachtet bis in die 1990er Jahre.1

  • 1Teil 2 folgt in der nächsten Ausgabe.
Foto: Archiv Massimo Perinelli

Der Frauenstreik in Pierburg Neuss.

Die Frage nach migrantischer Selbstorganisierung beantwortet sich in den Praktiken der Migration selbst. Widerspenstig gegenüber den ihnen begegnenden rassistischen und klassistischen Exklusionen versuchen Migrant:innen sich ein gutes Leben aufzubauen und entwickeln darin eine Vielheit an kollektiven Taktiken, Netz­werken, Haltungen und Theorien. Es ist dieses kanakoperaistische Moment, aus dem die Multitude – die Gesellschaft der Vielen – hervortritt und bis heute, bis „Gedenken Mölln 1992“, „Kanak Attak“, „Halitstraße“1 , „Oury Jalloh Initiative“, „Marches of Hope“, „International Women Space“, „Welcome United“2 , „Migrantifa“, „Black Lives Matter“, „Herkesin Meydani“3 , Halle und Hanau ihre Wirkmächtigkeit entfaltet.

Migration findet seit jeher entlang selbstgeschaffener Netzwerke, Logistiken und Wissensbestände statt, aus denen heraus sich solidarische und antirassistische Struk­turen erst ausbilden konnten. Dieser Perspektivwechsel von Solidarität und Selbst­organisierung bzw. Autonomie ist wichtig, um Migration statt als problembehaftet in ihrer transformatorischen Dimension begreifen zu können. Im Folgenden soll es daher stärker um das Moment der alltäglichen migrantischen Selbstorganisierung gehen, als um die in Vereinen institutionalisierten, nationalen oder thematischen Interessenvertretungen. Zwar greifen beide Organisationsformen ineinander, die gesellschaftspolitische Dynamik, um die es im Folgenden gehen soll, sieht dieser Beitrag aber in den konkreten Kämpfen im Prozess der Einwanderung selbst.

Nach dem Zweiten Weltkrieg organisierten sich vor allem die sogenannten Gastarbeiter und wehrten sich gegen ihre Arbeits- und Lebensbedingungen. Politisch verfasst waren diese Arbeiter:innen entsprechend ihrer Mitgliedschaften in den Parteien, Gewerkschaften und religiösen Verbänden ihrer Heimatländer. Aus der Tradition linker Organisierung brachten die Menschen, die in Deutschland die Drecksarbeit machen sollten, Arbeitskampferfahrungen und Wissen um älteren Widerstand gegen den Faschismus wie in Italien und gegen aktuelle diktatorische Regime in ihren Herkunftsländern wie in Spanien, Portugal, Griechenland bis Mitte der 1970er Jahre und später ab den 1980er Jahren dann der Türkei mit.

Die ungelernten Massenarbeiter:innen aus dem italienischen Süden hatten bereits Mitte der 1960er Jahre die Dynamiken der heftigen Betriebskämpfe in den Industrien Norditaliens bestimmt und trugen diese Praktiken Ende der 1960er Jahre nach Nordeuropa, vor allem nach Deutschland. Die Phase der wilden Streiks von Ende der 1960er bis Anfang der 1970er Jahre in vielen großen bundesrepublikanischen Industrien wurden fast ausschließlich von den migrantischen Arbeitnehmer:innen organisiert und durchgeführt – oft gegen den Willen der Gewerkschaften 4 .

An diesen Kämpfen orientierten sich dann die ersten operaistischen deutschen Gruppen und setzten sich dabei von den klassischen ML-Gruppen politisch ab. Der prominenteste dieser wilden Streiks, der Ford Streik in Köln 1973, zeigte jedoch schmerzhaft die mangelnde Solidarität auf Seiten der deutschen Kolleg:innen, von denen sich nur eine Handvoll am Streik beteiligten, die dafür aber zusammen mit Werkschutz und Polizei und mit wohlwollender Haltung der etablierten Gewerkschaften den „Türkenstreik“ mit blutiger Gewalt halfen zu beenden. Allerdings gelang es den migrantischen Arbeiterinnen im selben Jahr beim wilden Streik von Pierburg-Neuss aufgrund einer vielfältigeren Form der Organisierung, die rassistische Spaltung zu überwinden und ihre Forderungen durchzusetzen.

All diesen migrantischen Betriebskämpfen war dabei zu eigen, dass sie – wie es „Lotta Continua“ 1974 formulierte – „[…] eine Konkretisierung einer viel weiter reichenden Rebellion gegen die eigene Lage der Unterordnung und Diskriminierung, gegen die eigene Emigrantensituation“ waren. So war die Selbstorganisierung in den Betrieben nicht zu trennen von der Frage der gesamten Lebensverhältnisse unter den Bedingungen von Rassismus.

Arbeitsmigrant_innen aus Italien organisierten 1974 aus der Erfahrung der italienischen Mietstreikbewegung die erste Hausbesetzung in Frankfurt, 1975 gründete sich aus der spanischen Community heraus das „Circulo Cultural“ in Essen als eines der ersten Stadtteilzentren in diesem Land. Die Orte an denen sich migrantische selbstorganisierte Strukturen entwickelten, waren die verlassenen und runtergekommenen Stadtteile, in denen sich die eingewanderten Familien niederließen, deren marode Struktur sie auf eigene Kosten instand setzten und wo sie eigene Ökonomien im Dienstleistungs- und Gastronomiebereich gründeten. Es war genau in diesen selbstgebauten Milieus, in denen sich das gegenkulturelle Begehren der jungen bundesdeutschen 68er entfalten und neue Lebensweisen erproben konnte: Kommunen, Hausbesetzungen, Läden, Kollektive, Kiezstrukturen und linke Stadtteilzentren realisierten sich im Laufe der 1970er Jahre im Schatten migrantisch-­selbstorganisierter Topologien, die sie in ihrem revolutionären Gestus jedoch geflissentlich verschwiegen. Dieses historische Bewusstsein fehlt der deutschen Linken bis heute.

Die migrantische Bürgerrechtsbewegung der 1980er Jahre war eine selbstorganisierte, linksorientierte Massenbewegung, deren Fokus einerseits auf den politischen Bedingungen in den Herkunftsländern lag, dabei aber zunehmend die hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse thematisierte und darin eine wichtige Etappe im Prozess der dauerhaften Sesshaftwerdung darstellte. Sie protestierte gegen das „Ausländergesetz“ und reagierte auf weitere Schließungen großer Industrien im Kontext der Stahlkrise, sowie auf den damit einhergehenden Plan der Regierung Kohl, die türkische Bevölkerung in Deutschland um die Hälfte zu reduzieren.

Flankiert wurden die rassistischen Maßnahmen der Bundesregierung durch eine rechtspopulistische „Türken raus!“-Kampagne, die viele Opfer nach sich zog. Zu der Abwehr rassistischer Straßengewalt wurde der Kampf um Asyl zu einem bestimmenden politischen Thema, nachdem viele politische Flüchtlinge aus der Türkei und dem Iran hier politisches Asyl beantragten. In den 1980er Jahren zeichnete sich auch ein allmählicher Generationenkonflikt ab, der die Exil-Politik der ersten Generation durch alltägliche antifaschistische Kämpfe in den eigenen Stadtteilen ablöste.

Aus dieser Mobilisierung gründete sich u.a. auch die Gruppe „Antifa Genclik“, die aus der linken Parteienlandschaft ihrer Eltern hervortrat und – noch in marxistisch-leninistisch geschulter Rhetorik – ihren Schwerpunkt auf ihre Situation hierzulande richtete. Die Dynamik der Selbstverteidigung verstärkte sich vor dem Hintergrund nationalistischer und rassistischer Enthemmung im Zuge der deutschen Vereinigung. Den Migrant:innen, die auf eine mehr als zwanzigjährige Geschichte von Selbstbehauptungskämpfen aufbauen konnten, war der Zusammenhang von Rassismus und der sog. Wiedervereinigung schnell bewusst. Die Situation zwang sie in diesem Land erneut und vielleicht für ein letztes Mal, sich aktiv für ein Hierbleiben entscheiden zu müssen und dieses gegen strukturellen wie offenen Rassismus zu erkämpfen.

Viele der nächtlichen Neonazi-Angriffe wurden vereitelt und eigene Orte gegen Rassist:innen handfest verteidigt, wie z.B. durch die Militanz der vietnamesischen Bewohner:innen im Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen 1992. Die Betroffenen vom Pogrom in Hoyerswerda 1991 wiederum weigerten sich, sich in das nächste Lager verschicken zu lassen und machten sich auf eigene Faust nach Berlin auf, wo sie zusammen mit Antifaschist:innen die TU-Berlin besetzten und damit im Grunde die antirassistische Bewegung, die es bis zum Mauerfall in Deutschland noch nicht gab, zur Geburt verhalfen5 .

Wie schon die junge deutsche Counterculture der späten 1960er Jahre sich in den Strukturen der migrantischen Kämpfe entwickeln konnte, trat auch der Antirassismus in den 1990er Jahren als Gravitationspunkt für eine verbindende linke Politik aus den migrantischen selbstorganisierten Kämpfen hervor. Obwohl die 1990er Jahre vor allem ein Jahrzehnt der Niederlagen bedeuteten, weil die rassistische Spaltung innerhalb der Linken nicht überwunden werden konnte und viele migrantische Gruppen scheiterten, brachten die selbstorganisierten Bewegungen ein neues Verständnis einer immer schon durch Migration geprägten Gesellschaft auf die Tagesordnung, die später als postmigrantische Gesellschaft auch analytisch gefasst werden und Bezugspunkt späterer Kämpfe werden konnte.