England: Terrorismusvorwurf gegen Antira-Aktivist_innen
In Großbritannien läuft derzeit ein Prozess gegen 15 Antira-Aktivist_innen, die mit einer spektakulären Aktion eine Sammelabschiebung verhinderten. Ihr Handeln wird nun als Terrorismus kriminalisiert, ihnen drohen lebenslange Haftstrafen.
Es war der Abend des 28. März 2017, 22 Uhr: Am Londoner Flughafen Stansted sollte wie so oft ein Charterflug der britischen Regierung nach Westafrika starten. 53 Menschen wollte die britische Regierung an diesem Tag nach Nigeria und Ghana abschieben, die vor Verfolgung in ihren Herkunftsländern geflohen waren. Eine gängige Praxis in Großbritannien, die von der Regierung teilweise vollzogen wird, noch bevor die Abschiebeverfahren der Betroffenen überhaupt von Gerichten entschieden wurden. In der britischen Öffentlichkeit ist diese Praxis kaum Thema, die Regierung versucht solche Flüge nachts im Geheimen abzuwickeln.
Doch soweit kam es an diesem Dienstag nicht: Mehrere Antira-Aktivist_innen enterten in zwei Gruppen die Startbahn. Da die Security sie bereits bemerkt hatte, musste alles ganz schnell gehen: Die erste Gruppe errichtete eine metergroße Pyramide aus Stahlrohren vor dem Flügel der Boeing 767-300, an der sie ein pinkes Transparent mit der Aufschrift „No One is illegal“ und danach sich selbst befestigten. Eine Person stieg auf die Spitze, damit die Polizei das Konstrukt nicht einfach umkippen konnte. Parallel ketteten sich andere Aktivist_innen an einem Rad des Fliegers zusammen. Indem alle sogenannte „Armrohre“ nutzten — eine Methode, bei der sich die zusammengeketteten Arme der Beteiligten in Röhren aus Metall oder einem anderen festen Material befinden, damit diese nicht einfach durchtrennt werden können — verhinderten sie den schnellen Abtransport durch die Polizei. Und nicht nur das, ihre Aktion war so effektiv, dass nicht nur die Sammelabschiebung komplett verhindert wurde, sondern der gesamte Flugverkehr in London-Stansted für zehn Stunden zum Erliegen kam.
Angenehm war die Aktion für die Beteiligten allerdings nicht: „Wenn du so lange dort liegst, ist es sehr schmerzhaft: Deine Arme sind hinter deinem Kopf hochgezogen und du liegst die ganze Zeit mit dem Rücken auf kaltem, hartem Beton ohne dich richtig bewegen zu können. Ich fühlte mich ziemlich schlecht am Ende“, berichtete eine Aktivistin. Dennoch hatte sich die Aktion gelohnt: „Die Menschen, die abgeschoben werden sollten, kamen mit Reisebussen direkt aus den Haftanstalten. Als gegen 3 Uhr morgens klar war, dass der Flug nirgendwo mehr hinfliegen wird, die Busse wieder abfuhren und sogar das Personal Feierabend machte, war das ein gewaltiges Glücksgefühl für uns.“
Gefährlicher Präzedenzfall
Bis die Polizei Spezialisten zum Entfernen der Rohre herangeholt hatte, vergingen mehrere Stunden. Einzeln wurden die Aktivist_innen mit Sägen aus den Armrohren geschnitten. „Der eigentliche Vorgang der Entfernung war nicht sehr spaßig - die Polizei war, sagen wir mal, nicht gerade freundlich und ging ziemlich grob vor“, so die Aktivistin. Nachdem alle gelöst waren, wurden die Beteiligten in verschiedene Polizeistationen gebracht und fast 24 Stunden lang verhört.
Mit der Aktion gelang es den Aktivist_innen nicht nur, zumindest punktuell effektiv Sand im Getriebe der langjährigen Abschiebepraxis der britischen Regierung zu sein und ein Zeichen in der öffentlichen Debatte zu setzen. Der Fall wurde erst aus anderen Gründen zum Politikum und Thema in der überregionalen Berichterstattung: Der ursprüngliche — und für solche Aktionen in Großbritannien übliche — Vorwurf des schweren vorsätzlichen Hausfriedensbruchs wurde im Laufe des Verfahrens ausgeweitet und durch „Gefährdung eines Flughafens und seiner Nutzer“ erweitert. Dieser aus der Anti-Terror-Gesetzgebung stammende Straftatbestand zum Schutz „strategischer Standorte“ wie Häfen und Flughäfen kann lebenslange Haftstrafen nach sich ziehen. Er wurde überhaupt erst in Folge eines Bombenanschlags auf eine PanAm-Maschine in Lockerbie im Jahr 1988 mit über 260 Toten eingeführt und soll jetzt offensichtlich gegen politische Protestaktivitäten angewendet werden.
Vergleichbare Fälle — ähnliche Aktionen gab es durch Klimaaktivist_innen und „Black Lives Matter“-Demonstrant_innen – endeten zuvor stets mit geringen Strafen wegen Hausfriedensbruch. Wenn es nach dem Willen der Anklage geht, nicht so bei den „Stansted 15“, wie die Gruppe von Antira-Aktivist_innen mittlerweile genannt wird. Zwar hatten die Behörden in einem der älteren Fälle ebenfalls versucht, hohe Haftstrafen für die Angeklagten zu erwirken, indem sie mit 25 Flugausfällen und diversen Verspätungen argumentierten, wodurch angeblich 92.000 Menschen „Opfer“ der Aktion geworden seien. Vor Gericht waren sie damit jedoch gescheitert, es gab nur Bewährungsstrafen.
Die Anwendung von Anti-Terror-Gesetzen gegen etablierte Protestformen sozialer Bewegungen in Großbritannien muss als neuerlicher Versuch der Kriminalisierung gesehen werden, der nunmehr soweit geht, komplett gewaltfreie Aktionsformen als inländischen Terrorismus zu brandmarken. Ziel der Repressionsorgane ist es offensichtlich, eine effektive Art des Protestes durch drakonische Strafen für politische Aktivist_innen unattraktiv zu machen. Wie erfolgreich sie damit sein werden, wird sich erst noch zeigen. Zumindest wurde die Anklage zugelassen und am 19. März der Prozess gegen die „Stansted 15“ eröffnet. Er sollte mindestens sechs Wochen gehen, wurde jedoch zunächst auf unbestimmte Zeit vertagt.
Angeklagte wollen Aufmerksamkeit nutzen
Die Angeklagten und ihr Umfeld wollen sich jedoch deswegen in ihrer politischen Praxis nicht auf die Antirepressionsarbeit beschränken, sondern die öffentliche Aufmerksamkeit um den Prozess nutzen, um auf die „brutale, geheime und kaum legale Abschiebepraxis“ in Großbritannien und die Schicksale der Betroffenen hinzuweisen. Einer der Anwälte formulierte es so: „Trotz der drakonischen Anklagen, die gegen die Betroffenen erhoben werden, enthüllt der Prozess ein Thema, über das die meisten Menschen in diesem Land nichts wissen — das schreckliche Klopfen an der Tür mitten in der Nacht und seine Folgen, die in den meisten Köpfen mit totalitären Regimen verbunden sind.“
Die britische Regierung bucht nämlich seit 2001 regelmäßig ganze Flüge, um eine große Anzahl an Menschen gleichzeitig abzuschieben. Diese Flüge finden nachts statt und werden im Geheimen von privaten Sicherheitsfirmen ausgeführt. Immer wieder gibt es Berichte von gewalttätigen Übergriffen bei diesen Abschiebungen. Um Betroffene ausfindig zu machen und die Maschinen voll zu kriegen, setzt die Regierung auf „racial profiling“. Effektiv wehren konnten sich die Betroffenen lange Zeit nicht: Erst seit Sommer letzten Jahres wurde vom Obersten Gerichtshof die langjährige Praxis, erst Abschieben, dann über Klagen entscheiden, als rechtswidrig eingestuft. Schätzungen gehen von tausenden Betroffenen pro Jahr aus.
Einer der Angeklagten sagte in einem Interview: „Hoffentlich macht dieser Fall auf die Brutalität und Ungerechtigkeit aufmerksam, die das britische Einwanderungsregime prägen und schafft neuen Raum für diejenigen, die Abschiebungen beenden und für eine Welt ohne Mauern, Käfige und Grenzen kämpfen wollen.“ Zum Prozessauftakt protestierten über 200 Menschen vor dem Gericht in Chelmsford, nordöstlich von London. Auf ihren Schildern und Transparenten standen nicht nur Forderungen wie „Drop The Charges“ („Lasst die Anklagen fallen“) sondern auch „End Deportations“ oder „No Detention, No Deportation“.