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Der Tod von Oury Jalloh

Christian Jakob
Einleitung

Bevor Oury Jalloh im Januar 2005 in der Zelle Nummer 5 des Dessauer Polizeireviers verbrannte, wurde er schwer misshandelt. Dabei wurden ihm unter anderem Schädeldach, Nasenbein, Nasenscheidewand und eine Rippe gebrochen. Das kam erst jetzt, vierzehn Jahre nach dem Tod und nach dem Ende von zwei Prozessen heraus. Es war der Rechtsmediziner und Radiologie-Professor Boris Bodelle von der Universitätsklinik Frankfurt, der die alten Aufnahmen von Jallohs Leiche im Auftrag der Initiative Gedenken an Oury Jalloh (IGOJ) noch einmal sichtete. Und sein Befund war recht eindeutig: Es sei davon auszugehen, dass die Veränderungen „vor dem Todeseintritt entstanden sind“, so Bodelle im Gutachten. Das ist deshalb bedeutsam, weil Jalloh zur Mittagszeit des 7. Januar 2005 verbrannte. Am Morgen, gegen 9.30 Uhr, war er zuvor von dem Dessauer Polizeiarzt Andreas Blodau untersucht worden. Der hatte keine Verletzungen bei Jalloh dokumentiert. Entsprechend müssen die Verletzungen, die jetzt das forensische Gutachten attestiert, zwischen der Untersuchung durch Blodau und dem Ausbruch des Feuers um 12.30 Uhr entstanden sein – so sieht es die IGOJ. Laut dem Frankfurter Gutachten zeigen Entzündungen, dass Jalloh zum Zeitpunkt der Verletzungen noch gelebt haben muss, die Brüche ihm also nicht etwa während der Löscharbeiten oder beim Transport in die Leichenhalle zugefügt sein können.

Foto: Christian Ditsch

Bislang war lediglich ein Bruch im Bereich des Nasenbein bei Jalloh verbrieft gewesen – auch dies nur durch ein privat von der IGOJ finanziertes Gutachten. Das hatte der inzwischen emeritierte Rechtsmedizin-­Professor Hansjürgen Bratzke aus Frankfurt 2005 verfasst. Auch der inzwischen ebenfalls emeritierte Rechtsmedizin-Professor Manfred Kleiber aus Halle war mit dem Fall befasst, hatte die jetzt bekannt gewordenen Verletzungen aber nicht benannt. So waren sie während der mehrjährigen Gerichtsverfahren gegen Polizeibeamte des Reviers nie offiziell festgestellt worden.

Die neuen Untersuchungsergebnisse sind deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie eine mögliche Antwort auf die Frage geben, warum Jalloh in seiner Zelle mit Brand­beschleuniger angezündet worden sein könnte. Diesen Tathergang hatte die anhaltische Justiz lange Zeit zurückgewiesen. Stattdessen wurde offiziell behauptet, dass Jalloh die Matratze am Boden der Gewahrsamszelle, auf den er mit Händen und Füßen gefesselt war, selbst angezündet hatte.

Die IGOJ hatte schon sehr früh Belege dafür gesammelt, dass dies nicht der Fall gewesen sein kann. Viele weitere Indizien für eine Tötung waren im Laufe zweier Prozesse zutage getreten. Im April 2017 schloss sich schließlich der Dessauer Staatsanwalt Folker Bittmann dieser Auffassung an. Bittmann schreibt in einem Aktenvermerk, er gehe davon aus, dass Jalloh bereits vor Ausbruch des Feuers „mindestens handlungsunfähig oder sogar schon tot“ war. Vermutlich sei er mit Brandbeschleuniger besprüht und angezündet worden. Dies legten sechs Gutachter nahe, die Bittmann konsultiert hatte. Das Motiv könnte nach Auffassung Bittmanns gewesen sein, dass dem Asylbewerber zuvor zugefügte Verletzungen vertuscht werden sollten. Der Staatsanwalt benannte konkrete Verdächtige aus den Reihen der Dessauer Polizei. Kurz darauf aber wurde Bittmann der Fall entzogen und an die Staatsanwaltschaft Halle abgegeben – und diese stellte das Verfahren ein. Das OLG Naumburg wies eine Beschwerde dagegen zurück und entschied: Es wird kein neues Verfahren in dem Fall geben.

In dem Dessauer Revier waren vor dem Tod Jallohs bereits zwei weitere Menschen im oder unmittelbar nach dem Gewahrsam unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen: Im Dezember 1997 wurde Hans-­Jürgen Rose um Mitternacht wegen Trunkenheit am Steuer ins Revier gebracht. Kurz nach seiner Entlassung wurde er schwerverletzt in der Nähe des Reviers auf der Straße aufgefunden. Er starb am gleichen Morgen im Krankenhaus. Die Ermittlungen wurden eingestellt.

Im November 2002 wurde der Obdachlose Mario Bichtemann stundenlang in derselben Zelle wie Jalloh festgehalten und schließlich tot auf dem Zellenboden vorgefunden – Todesursache: Schädelbasisbruch. Das Verfahren gegen den Dienstgruppenleiter Andreas S. wurde eingestellt. Teils handelte es sich bei den Beamten, die an jenen Tagen Dienst taten, um dieselben, die mit Jalloh befasst waren. Wäre mit Jalloh ein dritter Todesfall auf Gewalteinwirkung zurückzuführen gewesen, wären womöglich auch die Fälle Rose und Bichtemann wieder aufgerollt worden. Hier könnte ein Motiv für den Brand zu finden sein.

Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt sieht nach den neuen Erkenntnissen keinen Handlungsbedarf. „Im Fall der Ermittlungen zu den Todesumständen von Oury Jalloh ist das OLG Naumburg zu einer Entscheidung gelangt“, erklärte das Magdeburger Innenministerium gegenüber der taz und verweist stattdessen auf das Justizministerium. Auch dort hält man sich zurück: „Es ist nicht Aufgabe des Justizministeriums oder der Landesregierung, Gutachten in gerichtlichen Verfahren einzuschätzen oder zu berücksichtigen“, schreibt ein Sprecher von Justizministerin Anne-Marie Keding (CDU).
Entweder hat der Arzt die Verletzungen ignoriert oder sie entstanden erst im Polizeigewahrsam im Dessauer Revier“, sagt die innenpolitische Sprecherin der Linken, Henriette Quade. Das Gutachten stelle die bisherigen Entscheidungen der Justiz in der Sache infrage. Quades Fraktion hatte einen Untersuchungsausschuss gefordert, den die regierende Kenia-Koalition aber abgelehnt hatte. „Das war eine politische Entscheidung von CDU, SPD und Grünen, die den nicht vorhandenen Aufklärungswillen noch einmal festschrieb“, so Quade. „Wieso braucht es erst ein extern veranlasstes Gutachten um diese Verletzungen zu entdecken – und hat die Justiz tatsächlich alles Notwendige und Mögliche unternommen, um den Tod Oury Jallohs aufzuklären?“ Sie forderte neue Ermittlungen. Angesichts der Bedeutung des Falles und der Schwere des im Raum stehenden Verdachts sei der Generalbundesanwalt „die richtige Instanz dafür“. Der allerdings hatte es bislang abgelehnt, sich mit dem Fall zu befassen.

Der Rechtsausschuss des Landtags hatte statt eines Untersuchungsausschusses die Juristen Jerzy Montag und Manfred Nötzel als externe „Berater“ eingesetzt, die die Akten begutachten sollen. Diese könnten nun „unverzüglich ihre Arbeit aufnehmen“, sagt Sebastian Striegel, der innen- und rechtspolitische Sprecher der Grünen im Landtag. Das Gutachten werfe „wichtige Fragen auf“.
Doch es ist völlig offen, was der frühestens in einem halben Jahr erwartete Bericht der beiden Juristen überhaupt noch für eine konkrete Wirkung haben kann. Der Berater Jerzy Montag lässt wissen, das sei allein Sache der „Auftraggeber“, also des Rechtsausschusses. SPD Fraktionssprecher Martin Krems-Möbbeck schreibt, die Berater sollen „zur Unterstützung der Abgeordneten“ die Ermittlungsakten aufarbeiten. Doch was diese Tätigkeit für Folgen haben kann – no comment.

Ende November legte dann die Familie Jallohs Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Diese richtete sich gegen den Bescheid der Staatsanwaltschaft Halle vom Oktober 2017 und gegen den Prüfvermerk der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg vom November 2018, die Ermittlungen einzustellen, sowie den jüngsten Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom Oktober 2019, keine öffentliche Anklage verdächtiger Personen in dem Fall anzuordnen. Das stelle „in mehreren Punkten eine Grundrechtsverletzung dar“, so die IGOJ. Die polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungen seien nicht unvoreingenommen gewesen sowie lückenhaft und zögerlich durchgeführt worden, sagte die Rechtsanwältin Beate Böhler. Die Ermittlungen hätten „ausschließlich der Bestätigung der Selbstentzündungsthese“ gedient.

Der Bochumer Strafrechtsprofessors Tobias Singelnstein fordert einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Die Befunde des neuen Gutachtens seien „eine kleine Sensation“, sagte Singelnstein dem Spiegel. Schon bisher hätte es in dem Fall „viele Fragezeichen“ gegeben, „nun kommen weitere hinzu“. Dass Jalloh auch Frakturen des Schädels und einer Rippe erlitten hatte, bevor er verbrannte, sei „etwas ganz anderes“ als der bloße Nasenbeinbruch, von dem man bisher ausgegangen sei. Das passe „nicht ohne Weiteres“ zu der Behauptung, er habe selbst seinen Kopf auf eine Tischplatte geschlagen. Diese Feststellungen ließen nun „noch mehr daran zweifeln, dass er seine Matratze selbst anzünden konnte“, sagte Singelnstein. Weitere staatsanwaltschaftliche Ermittlungen seien theoretisch denkbar, allerdings sei damit nun nicht mehr zu rechnen. „Der ungeheuerliche Verdacht, dass hier Polizisten einen Menschen in Gewahrsam getötet haben“, bleibe im Raum. Der Fall sollte deshalb politisch aufgearbeitet werden, mit einem Untersuchungsausschuss. Auch da könne man „Zeugen vernehmen und Akten anfordern“.